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Willi der Große

Zum 100. Geburtstag von Willi Daume.

 

Die Bilanz konnte sich sehen lassen. Der Deutsche Handball-Bund (DHB) zählte mit rund 400.000 Aktiven zu den größten deutschen Sportverbänden. Und just lag die WM hinter ihnen, ein Fest des Feldhandballs, das ordentlich Geld in die Verbandskassen gespült hatte. So konnte Willi Daume, der erste Präsident des Deutschen Handball-Bundes (DHB), in seiner Rede vom 16. Oktober 1955 zufrieden auf die sechs Jahre nach der Verbandsgründung im Jahr 1949 zurückblicken. „Wenn wir von der Stunde Null, dem Tage des Zusammenbruchs des ganzen Lebens in Deutschland im Frühjahr 1945, ausgehen und unsere Betrachtungen mit der vom Deutschen Handball-Bund so großartig durchgeführten Weltmeisterschaft abschließen“, lautete sein Fazit in der Sportschule Duisburg-Wedau, „so können wir alle, die wir hier versammelt und die wir an dem Wiederaufbau im gleichem Umfange beteiligt sind, nur befriedigt und stolz sein“.

Daume selbst zog sich an diesem Tag aus dem Handball zurück. Dazu entschlossen hatte er sich bereits 1953. Die Arbeit im DHB-Präsidium sei, da er beruflich zu sehr beansprucht sei, zuletzt nicht befriedigend gewesen. „Ich habe einen Beruf, der einen ganzen Mann erfordert“, erklärte Daume, der in Dortmund eine Eisengießerei betrieb. Der 42-Jährige sprach über die „Manager-Krankheit“, den Herzinfarkt, den viele Kollegen nicht überlebt hatten. „Dieser dauernde ungeheure Druck, die dauernde Zeitnot, die Hast, die mangelnde Bewegung, all das hat auch bei mir, bei uns allen hier, Spuren hinterlassen. Was mich anbetrifft, so hat mein Arzt sehr deutlich gewarnt.“ Womöglich, spekulierte Daume, werde er sich bald ganz aus dem Sport zurückziehen. „Vielleicht ist der Tag nicht mehr fern, an dem ich meine Freunde und Mitarbeiter bitte, mich auch von der sportlichen Arbeit zu entbinden.“

Dazu kam es nicht. Im Gegenteil: Die Aufgaben Daumes mehrten sich noch. Heute, wenn sich am 24. Mai 2013 der Geburtstag Daumes zum hundertsten Mal jährt, wird er als einer der bedeutendsten Sportfunktionäre des 20. Jahrhunderts gewürdigt. Gewählt als Präsident des Deutschen Sportbundes (1950-1970), übernahm Daume 1961 auch noch die Führung des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland (bis 1992). Während der Olympischen Spiele 1956 in Melbourne wurde er in das Internationale Olympische Komitee gewählt (bis 1991). Daume war Organisator der Olympischen Spiele 1972 in München. Und fast wäre Daume noch zum ranghöchsten Sportfunktionär der Welt aufgestiegen. Doch er verlor 1980 die Wahl zum IOC-Präsidenten gegen Juan Antonio Samaranch – ein Grund war der westdeutsche Boykott der Olympischen Spiele in Moskau, eine der größten Niederlagen in Daumes Karriere. Stattdessen übernahm er, der feinsinnige Kunstfreund, 1981 den Vorsitz der Erich-Kästner-Gesellschaft.

Die Startrampe für diese raketenhafte Funktionärskarriere war zweifellos der Handball. Geboren wurde Wilhelm „Willi“ Karl August Ferdinand Daume am 24. Mai 1913 im rheinischen Hückeswagen, sein Taufpate war Ferdinand Goetz, langjähriger Vorsitzender der Deutschen Turnerschaft. Der Vater meldete Daume schon als Sechsjährigen bei Eintracht Dortmund an, als Kind und Jugendlicher spielte Daume Fußball, Handball und Basketball, tummelte sich auch Leichtathletik, auch das Boxen und Tennisspiel probierte er aus. Die Liebe zum Sport war groß. Schon 1928 reiste er mit seinem Vater zu den Olympischen Spielen nach Amsterdam. 1932, als 19-Jähriger, sah er in Los Angeles, wie sein Freund Gottfried Weimann im Speerwerfen den vierten Platz belegte.

Auf die eigenen sportlichen Leistungen schaute Daume stets mit Humor zurück. Als Torwart zählte er zum erweiterten Olympia-Kader der deutschen Handballnationalmannschaft 1936. Als aber in Windeseile eine deutsche Basketballmannschaft aufgebaut wurde, wurde Daume dorthin delegiert; 1935 war er Mitglied der ersten Basketballnationalmannschaft, die bei den Studentenweltspielen in Budapest antrat. Bei den Olympischen Spielen in Berlin war im Kader (also offizieller Teilnehmer), warf aber keinen Ball gen Korb. Die bescheidenen Karrieren als Sportler und als Student endeten 1938, als Daumes Vater starb und er die Eisengießerei übernehmen musste. Schon in dieser Zeit wirkte er als Funktionär bei Eintracht Dortmund, leitete dort die Handballabteilung. Seine erste Funktion über den Klub hinaus übernahm er im Juni 1944, als ihn Adam Nothhelfer, der Geschäftsführer des Fachamtes Handball, als Gaufachwart Westfalen vorschlug. Ein Posten nur auf dem Papier am Ende des Krieges.

Daumes rasanten Aufstieg nach 1945 zum ranghöchsten deutschen Handballfunktionär hat am besten der Historiker Jan C. Rode beschrieben. Bereits am 19. Juli 1945 gründete Daume den Dortmunder Stadtverband für Leibesübungen mit, Ende 1945 fungierte er als Handballfachwart des I. Bezirks im Kreis Ruhrgebiet, und als der Zonensportrat tagte, saß Daume zunächst als Vertreter Westfalens für Hockey, Golf, Tennis und Tischtennis mit am Tisch. Als Vorsitzender des Westdeutschen Handballverbandes (26.7.1947) war bereits einer der wichtigsten Handballfunktionäre, und als 1948 der Deutsche Handballausschuss tagte, ein Vorläufer des DHB, da lobte die Zeitschrift Handball bereits die geschickte Verhandlungsführung Daumes.

„In der Nachkriegszeit schlitterte ich von der aktiven Wettkampftätigkeit in die organisatorische“, schilderte Daume 1955. Vieles sei nach dem Krieg „nach oben geschwemmt worden“. Das klingt etwas zu sehr nach schicksalhaftem Zufall. In Wirklichkeit rang Daume um Einfluss im Sport, etwa gegen Willy Burmeister, der zunächst im Zonensportrat den Handball repräsentierte. Und wenn er Carl Diem Ende 1948 zu einem Handballspiel nach Flensburg einlud, dann sicher nicht ohne Kalkül. Dass Diem danach lobte, „dass an einem so wichtigen Sportzweig ein so tatkräftiger und schwungvoller Führer entstanden ist, wie Sie es sind“, war von Nutzen. Den Aufstieg, schreibt Rode, verdankte Daume vor allem seinem Status als Unternehmer; in einer Zeit, in der viele Menschen hungerten, konnte Daume sich eine Funktionärskarriere leisten. Den vorläufigen Abschluss dieses Aufstieges im Handball bildete die Wahl Daumes zum DHB-Präsidenten am 1. Oktober 1949, in der Stadthalle in Mülheim an der Ruhr.

Den steilen Aufstieg Daume zum DHB- und DSB-Präsidenten hat man lange Jahre damit erklärt, dass Daume einen Neuanfang im deutschen Sport verkörperte, der durch die NS-Zeit belastet war. Dass er unbefleckt war. Für den Handball galt das ganz besonders, wo der Weltverband IAHF und auch das Fachamt für Handball doch seit 1938 von der SS gleichgeschaltet worden war. In Zeitschriften war der Handball als Wehrsport gefeiert worden, weil durch diesen Sport der Handgranatenwurf verbessert werde. „Der Sport hatte keinen moralischen Kredit mehr“, blickte Daume 1955 zurück. 1949, als er just 36 Jahre alt war, hatte er einen neuen, unbelasteten Sport repräsentiert.

Heute wird das Wirken Daumes im „Dritten Reich“ kritischer betrachtet. Daume war 1937 in die NSDAP eingetreten, und in den Vereinsnachrichten forderte er die Jugendlichen „zu mehr Betätigung im nationalsozialistischen Sinne“ auf. Schwerer wiegt noch, dass er 1943 für den Geheimdienst der SS, den Sicherheitsdienst (SD), Spitzelberichte in Antwerpen anfertigte, wo die Firma eine Zweigstelle besaß. Auch arbeiteten 65 Zwangsarbeiter in seiner Firma. Daume erzählte später, diese Berichte habe er geschrieben, um einen Fronteinsatz in Stalingrad zu verhindern. Daume habe nach dem Krieg „widerständiges Verhalten“ konstruiert, wie so viele Deutsche, urteilt der Historiker Rode. „Er hat als Unternehmer vom NS-System profitiert.“ Zugleich stellt Rode fest, Daume habe sich in den 1950er-Jahren eindeutig von der Ideologie des NS-Sports distanziert.

Daume wäre nie so steil aufgestiegen, wenn er nicht auch cleverer Machtpolitiker gewesen wäre. Dazu gehörte eine enge Zusammenarbeit mit der Sportpresse – die Deutsche Handball-Zeitung, die bis 1954 erschien, wurde im Dortmunder Büro seiner Eisengießerei erstellt. Seine Kraft als sportlicher Visionär und großer Redner schöpfte er aus Gesprächen mit Intellektuellen wie dem Prälaten Ludwig Wolker (der ihn 1949 im Altenberger Dom traute), dem spanischen Philosophen Ortega y Gasset oder später, vor 1972, dem Designer Otl Aicher.

Nicht alles lief für Daume nach Wunsch. Auch im Handball nicht. „Auch das Hallenspiel kommt auf – es sollte nicht zuviel aufkommen!“, sagte er, als er 1955 als DHB-Präsident abtrat. Er favorisierte den Feldhandball, den er selbst so geliebt hatte, und der mit der WM 1955 seine große Blüte erlebte – mit dem Endspiel in Dortmund, Daumes Heimat. Aber der DHB profitierte sehr von Daume, seinem ersten Präsidenten. Leute wie Willi Daume seien sehr schwer zu ersetzen, klagte Nachfolger Ernst Feick 1955 über jenen Mann, der dem deutschen Handball nach dem Krieg wieder etwas verlieh, was er nach 1933 verloren hatte: Moral und Reputation. Insofern ist das „Willi-Daume-Haus“ in Dortmund, das 1995 als Zentrale des Deutschen Handball-Bundes eingeweiht wurde, ein Jahr vor Daumes Tod, nicht nur ein Vermächtnis. Sondern auch hohe Verpflichtung.

Erschienen in der Mai-Ausgabe 2013 des Handball Magazins.

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