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Genial abgekupfert

War eine Pneu-Werbung Vorlage für die olympischen Ringe?

 

Die fünf olympischen Ringe sind vielleicht das bekannteste Emblem der Welt. Über einen vergleichbar hohen Bekanntheitsgrad verfügen heute noch das christliche Kreuz, das Rote Kreuz, der Schriftzug von Coca-Cola und einige Staatsflaggen wie der «Union Jack», die «Stars and Stripes», das Hakenkreuz Hitlers oder Hammer und Sichel. Wenn die olympische Flagge anlässlich der Olympischen Winterspiele in Salt Lake City wieder gehisst wird, ist nahezu jedem sportinteressierten Zuschauer die Bedeutung klar, die ihrer Zeichensprache innewohnt: Friede und weltweite Völkerverständigung sprechen aus dem nur genial zu nennenden Markenzeichen. Der Begründer der modernen Olympischen Spiele selber, der französische Baron Pierre de Coubertin, stellte die fünf Ringe 1914 als Ausdruck des olympischen Geistes vor.

Die fünf Ringe, so der geistige Vater des heute international grössten Sportereignisses in seinem pathetischen Stil, «repräsentieren die fünf Teile der Welt, die sich von nun an dem Olympismus verschrieben haben und die bereit sind, in fruchtbaren Wettstreit zu treten. (. . .) Wenn sie im Wind weht, wird sie leicht aussehen, farbenfroh, schillernd und erbaulich. Ihr Symbolwert ist riesig.» Die Idee des Barons setzte sich durch. Seit den Olympischen Spielen 1920 in Antwerpen stehen die fünf Ringe als Pars pro Toto für den olympischen Sport. Sie sind heute der Grundstock jener weltweiten Vermarktung, die das Internationale Olympische Komitee (IOK) seit etwa 20 Jahren betreibt, und bilden das wichtigste Kapital des Franchise-Unternehmens am Genfersee.

Coubertin schrieb also ausführlich vom hohen Symbolgehalt der Ringe. Was er indes nicht kundtat: wie er diese verblüffend einfache Bildsprache konzipierte. Mit gutem Grund, denn ganz offenbar sind zumindest die fünf ineinander verwobenen Ringe nicht seine originäre Schöpfung, sondern schlicht ein Plagiat. Der Kölner Sporthistoriker Karl Lennartz hat jedenfalls handfeste Indizien für diesen wenig olympischen Markenklau gefunden. In seinem Aufsatz «Story of the Rings» («Journal of Olympic History», Vol. 10) weist er hin auf eine Werbung in der Zeitschrift «Radfahr-Chronik» aus dem Jahre 1896, dem Jahr der ersten Durchführung der Olympischen Spiele in Athen. Darin warb die Fahrrad-Firma Dunlop für ihren 1888 erfundenen «Dunlop-Pneumatik» mit einer Zeichnung, auf der fünf miteinander verbundene Ringe zu erkennen sind, die Fahrradreifen symbolisieren sollen. Vier von den Reifen werden von Engeln festgehalten, die wiederum jeweils Bänder mit den Aufschriften «Europa», «Amerika», «Asien» und «Afrika» zieren. Australien als fünfter Kontinent fehlt, doch das wichtigste Merkmal des heutigen olympischen Symbols ist klar vorgezeichnet.

Hat Coubertin diese Reklame wirklich gekannt? Lennartz ist sich da ziemlich sicher, denn in der gleichen «Radfahr-Chronik» findet sich auch eine Werbung von Acatane, einem französischen Hersteller von Luxusfahrrädern, die – als Referenz für die Güte des Produktes – insgesamt 33 adlige Benutzer benennt. Darunter sind die deutschen Prinzen von Wittgenstein und von Hohenlohe und ein «Baron von Coubertin». Der Sporthistoriker geht fest davon aus, dass beide Anzeigen auch in französischen Radfahr-Zeitschriften geschaltet wurden und Coubertin nicht entgangen sein konnten.

Wie an der Ausgestaltung der Spiele selber, so ist auch an der Entwicklung der olympischen Ringe die Coubertin’sche Gabe zu beobachten, bereits Vorhandenes mit modernen Elementen zu mixen und so Symbole genialer Einfachheit zu schaffen. Natürlich wäre es jetzt einfach, dem französischen Baron noch nachträglich den Preis für das gewagteste Plagiat des 20. Jahrhunderts zu verleihen. Was Coubertin jedoch ohne jeden Zweifel zuzuschreiben ist: Er etablierte die fünf Ringe als weltweites Markenzeichen. Und das ist schliesslich auch eine Leistung.

Erschienen am 12. Dezember 2001 in der Neuen Zürcher Zeitung.

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