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Eine Schleife als Trost

Erbittert hatte der Vielseitigkeitsreiter Hinrich Romeike in Athen um die aberkannte Team-Goldmedaille gekämpft. Inzwischen hat er das gute Stück abgeschickt und blickt gelassen zurück.

 

Moholz. Die Szene ist noch so präsent wie an jenem Tag, an dem er sie erlebte. Vier Wochen nach den Olympischen Spielen war Hinrich Romeike die rund zehn Kilometer zur Postfiliale in das kleine schleswig-holsteinische Städtchen Rendsburg gefahren. Ein besonderer Tag, „da bin ich sonst nie”, erzählt der 41-Jährige. Als er an die Reihe kam, legte er wortlos das Päckchen auf den Schalter. Die Anschrift lautete: Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN), Warendorf. Der in Watte gepackte Inhalt: ein Stück Goldmedaille. Diejenige, die der Vielseitigkeitsreiter zuvor mit der Mannschaft in Athen gewonnen und um die er so lange und so leidenschaftlich gefochten hatte. Gleich war sie perdu, denn die FN würde sie zum Internationalen Olympischen Komitee (IOC) nach Lausanne weitersenden. Der Beamte, den Romeike noch nie in seinem Leben gesehen hatte, stockte, als er das Päckchen erblickte. „Ist sie da drin?”, fragte er, nicht aufschauend, mit brüchiger Stimme. Romeike bejahte. „Das darf ich meiner Frau nicht erzählen”, sagte der Mann am Schalter nach einem Moment, der sich ewig dehnte, „die fängt sonst sofort an zu weinen.”

Das war die stille Schlussnote in der wohl schrillsten Sportoper des Jahres 2004. Tagelang hatte die deutsche Öffentlichkeit das Schicksal der deutschen Buschreiter beschäftigt, diese Geschichte, die Stoff bot für ganze Romane. In Kurzprosa ging sie so: Bettina Hoy, Mannschaftskollegin von Romeike, hatte beim abschließenden Springreiten zweimal die Startlinie gequert, da ein Kampfrichter beim ersten Mal die halbautomatische Zeitnahme nicht ausgelöst hatte. Wertete man die erste Zeit, landete das deutsche Team auf Platz vier, wertete man die zweite, war Deutschland Olympiasieger. Es ging damals hin und her in Markopoulos, Tränen flossen, und jahrelange Freundschaften unter Sportlern zerbrachen. Zuerst wurden die deutschen Außenseiter zu Olympiasiegern gekürt. Es folgte ein erfolgreicher Protest der „Alliierten”, wie die Franzosen, Engländer und US-Amerikaner fortan nur spöttisch genannt wurden. Am Abend waren die Deutschen wieder Olympiasieger, tags darauf wieder nicht. Der internationale Sportgerichtshof CAS als letzte Instanz sah schließlich einen Formfehler beim Einspruch der Deutschen. Was blieb, war Platz vier. Einzelsiegerin Hoy fiel zurück auf Platz neun.

Romeike war damals Teamsprecher der Deutschen. Heute sagt er, die hektischen Tage von Athen hätte er empfunden wie in einem Kompressor. „Das war Verdichtung pur”, sagt er, „das erlebt man sonst nicht in Jahren.” Wenn man ihn heute sieht am wärmenden Kamin seines abgelegenen und idyllischen Gehöftes im Herzen Schleswig-Holsteins, glaubt man kaum, dass er es war, der in Athen flammende Appelle an IOC-Präsident Jacques Rogge gerichtet hatte. „Ich war so aufgeregt heute morgen, dass ich vergessen habe, meine Unterhose anzuziehen”, das sagte er damals bei der Pressekonferenz im Deutschen Haus, bevor er aufstand und zu einem Plädoyer anhob. Die Olympische Charta in der Hand und Fairplay und Gerechtigkeit beschwörend, forderte er den obersten Olympier auf, zwei Goldmedaillen zu verleihen. Als seine Rede endete, klatschten viele Beifall. „Überall wurde der olympische Gedanke eingefordert”, sagt Romeike, „deswegen dachte ich, dass es eine salomonische Lösung gibt und sich die olympische Idee erneuern kann.” Es liegt immer noch Pathos in seiner Stimme. Warum es nicht so kam? „Das alles ist ein großes Geschäft. Es geht um Geld und Macht”, findet Romeike.

Schwer erschrocken hat er sich, als die Agenturen Anfang November meldeten, das Pferd Hoys, Ringwood Cockatoo, sei in Athen positiv getestet worden. Damals rotierten die Gedanken in Romeikes Kopf: Was wäre gewesen, hätte Rogge tatsächlich, wie er es vor der Weltpresse gefordert hatte, die zweite Goldmedaille verliehen? Romeike hätte sich im Nachhinein reichlich lächerlich gemacht, und noch mehr: Es wäre eine in der olympischen Geschichte einmalige Groteske geworden, „ein Super-GAU”, so der Reiter. Aber im Nachhinein wurde Hoy Anfang Dezember vom Rechtsausschuss des Reitsport-Weltverbands freigesprochen, die fragliche Medikation sei doch regelgerecht vorgenommen worden. „Zum Glück”, sagt Romeike.

Auch deswegen blickt er heute gelassen auf diese Tage wie im Durchlauferhitzer. Stolz präsentiert er die vielen Briefe mit Autogrammwünschen, die jede Woche eintrudeln, gern zeigt er die Fotos aus Athen, dem „Turnier seines Lebens”, wie die FAZ rühmte. Romeike hat die Dinge eingeordnet. „Man trennt irgendwann das Unwichtige vom Wichtigen”, sagt er, der einzige Amateur der deutschen Equipe, der sein Geld als Zahnarzt verdient. Das Unwichtigste, sagt er, sei die Medaille. Im Reitsport zählen die gewonnenen Schleifen, und die mit der Aufschrift Olympiasieger Athen 2004, berichtet er lächelnd, die habe er ja noch. Was ist wichtig? „Dass jeder weiß, dass wir sportlich die Besten waren und die eigentlichen Olympiasieger sind.” Auf diese Erkenntnis weisen ihn auch die beiden riesigen Transparente in seiner Reithalle hin, die er jedes Mal, wenn er seinen zehnjährigen Schimmelwallach Marius trainiert, vor Augen hat. „Olympiasieger Athen 2004” steht da drauf, aufgehängt wurden sie vor der Feier mit 1.100 Menschen, die ihn bei seiner Rückkehr hochleben ließen. „Alle waren da”, erzählt Romeike, „die Feuerwehrkapelle, sogar der Bürgermeister aus Nübbel”, dem Nachbardorf. Er klingt nicht verbittert. Er sagt: „Die Erinnerung an all die tollen Augenblicke kann sich keiner kaufen.”

Nur wenn die Sprache auf das Nationale Olympische Komitee (NOK) kommt, wird Romeike böse, sehr böse sogar. „Das NOK hatte keinen einzigen Juristen vor Ort”, flucht er, und für den NOK-Präsidenten hat er immer noch nur Verachtung übrig. „Klaus Steinbach ist ein Schwächling”, sagt Romeike. „Die anderen NOKs waren juristisch bis an die Zähne bewaffnet”, erklärt er, Steinbach aber habe nur Mitleid geäußert und nicht gekämpft: „Als es drauf ankam, kam nichts vom NOK.” Auch deswegen habe er das Gold zurückgegeben: „Wenn die BRD keinen Wert auf die Medaille legt, dann spiele ich nicht den Michael Kohlhaas.”

So haben die Athleten beschlossen, die Angelegenheit sportlich zu kompensieren. Bis Peking 2008 „läuft noch viel Wasser die Themse runter”, meint er, also werden die deutschen Vielseitigkeitsreiter schon bei den Weltreiterspielen 2006 in Aachen „die offene Rechnung begleichen”. Was dann geschieht? Romeike lächelt: „Dann werden wir uns die Goldmedaille zurückholen.”

Erschienen am 30. Dezember 2004 in der taz.

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