In einem Fußballclub fesselten Jugendliche einen Mitspieler und bolzten Bälle auf ihn – die Trainer machten mit.
Die Sportschule Hennef, östlich von Bonn auf einem Hügel gelegen und von Wald umsäumt, ist ein verträumtes Fleckchen Erde. Die Gegend ist ruhig, alles ist sauber und geordnet. Der kurzgeschorene Rasen könnte mit Wimbledon konkurrieren, und trotz des vorangeschrittenen Herbstes verunreinigt kein Blättchen das kleine Schwimmbad. Auf dem weiträumigen Gelände treffen sich Lehrer, Sportler und Trainer aus dem Bereich des rund 300000 Mitglieder fassenden Fußball-Verbandes Mittelrhein (FVM), um sich fortzubilden und zu regenerieren, und wenn sich abends alle nach den Kursen und Seminaren im Hauptgebäude wiedertreffen, ist das Hallo groß. Hier ist die Welt des Sports noch in Ordnung. Doch sie trügt, die Idylle.
Denn im Lehrraum 4, einem neonbeleuchteten Raum im Keller des Haupttraktes, wird an diesem Mittwochabend vor der Verbandsjugendspruchkammer des FVM ein spektakulärer Fall wieder aufgerollt, der allen peinlich ist, auch den Funktionären, die sonst Fairplay im Fußball predigen. „So einen Fall hatte ich noch nie“, räumt der Kammer-Vorsitzende Heinz Bergs ein, im zivilen Leben Richter am Amtsgericht Geilenkirchen. Oft geht es in der Sportgerichtsbarkeit um Prügeleien auf dem Spielfeld, um Nötigung gegenüber Schiedsrichtern. Diese Fälle sind mittlerweile Legion im Jugendfußball, nicht nur am Mittelrhein. Doch dieser Fall sprengt alles.
Rund 30 Leute sind gekommen; die fünfköpfige Kammer, die vielen Beteiligten, reichlich Zeugen, eine Handvoll Journalisten. Was war geschehen? In der B-Jugend des Rot-Weiß Merl, einem rund 400 Mitglieder starken Klub im verschlafenen Städtchen Meckenheim, war der Jugendspieler Matthias S. nach einem Training vom Trainer Dirk Z. mit zwei Sprungseilen an der Torlatte festgebunden worden. Dann hatte der Rest der Mannschaft den 16-Jährigen, der mit dem Rücken zu ihnen stand, aus rund fünf Metern abzuschießen versucht.
Der Grund für dieses „Arsch-Schießen“ oder „Arsch-Bolzen“, so der jugendliche Jargon, lag im vorangegangenen Meisterschaftsspiel, in dem der Schiedsrichter dem Jugendlichen die Gelbe Karte gezeigt hatte, weil der gemeckert hatte. Das zog die höchste Strafe des von der Mannschaft beschlossenen Strafkatalogs nach sich – ein Strafkatalog, der an militärische Selbstdisziplinierung erinnert, obwohl er nicht ganz so drastisch ausfällt wie in dem US-Spielfilm „Eine Frage der Ehre“, der in Guantánamo spielt. Darin wird ein Soldat von seiner Einheit zu Tode gequält, weil er sich den körperlichen Anstrengungen der Ausbildung nicht gewachsen zeigt. In Meckenheim ist keiner zu Tode gekommen. Aber nach Auskunft der Mutter hatte der damals 16-Jährige hernach „Hautabschürfungen und Blutergüsse an den Handgelenken“. Das war im Juni 2003.
Der Skandal wurde im Verein zunächst gedeckelt. Er habe dem Verein nicht schaden wollen, erklärt der Klubvorsitzende Michael Sell. Der Trainer durfte weiterarbeiten und wurde gar wenige Monate später zum stellvertretenden Jugendleiter gewählt – obwohl „alle in Meckenheim davon wussten“, wie er selbst sagt. Erst als die Mutter des Jungen mit Anzeige drohte und der Trainer, der daraufhin gefeuert wurde, eine andere Jugendelf coachen wollte, erstattete Sell im Juni 2004 Selbstanzeige beim Verband. So kam es erst im August 2004 zur ersten Verhandlung bei der Kreisjugendspruchkammer Bonn, einem Sportgericht. Dabei wurde der ebenfalls anwesende Co-Trainer Udo H. zu vier Jahren Betätigungsverbot verurteilt, der Trainer gar zu fünf Jahren. Die höchste Strafe seit Jahrzehnten. Selbst nach Prügeleien mit Schiedsrichtern oder Spielern kassieren die Angeklagten meistens nur ein, maximal zwei Jahre.
„Das ist Misshandlung Untergebener, Freiheitsberaubung und Körperverletzung“, begründete der damalige Kammervorsitzende Rolf Fahlnberg das harte Urteil. „Trainer quälte Jugend-Kicker“, titelte der Kölner Express , andere Zeitungen schrieben gar von „Folter“ oder „Exekution“. Der Co-Trainer akzeptierte das Urteil. Der Trainer aber suchte sein Glück in der Berufung.
Deswegen sitzen jetzt alle Beteiligten erneut an dem Tisch der Sportgerichtsbarkeit, nur der betroffene Jugendliche hat sich entschuldigen lassen; er müsse als Metzgerlehrling zu früh aufstehen. Auch die Mutter fehlt berufsbedingt. Der Anwalt des Beklagten begründet zu Beginn der Verhandlung die Berufung. Die Sache solle nicht verharmlost werden, das nicht, „aber die Oktave ist bei weitem zu hoch gewählt“ für diese „Eselei“, wie er sie nennt.
Vom Vorsitzenden aufgefordert, erzählt sodann der Beklagte die Geschichte, wie er sie erlebt hat. Er sagt: „Ich fand das eigentlich recht amüsant“, als ihm der Mannschaftsrat zur Saison 2002/03 das „Arsch-Schießen“ als höchste Strafe präsentiert habe. Während der Tankstellenbesitzer das erzählt, rückt er den Stuhl hin und her. Dann fährt er nervös fort: „Das Arsch-Schießen wurde erstmalig in der Rückrunde fällig“, und die ersten „vielleicht fünf, sechs, sieben Male“ seien „selbst die Betroffenen“ über diesen Akt amüsiert gewesen. Gefährlich sei das nicht gewesen, meint der Trainer: „Wenn getroffen wurde, waren das Innenristschüsse, da kriegt man nicht so viel Kraft dahinter.“ Die fünf Mitglieder der Kammer schauen entgeistert.
Ja, und dann, erzählt Dirk S., habe Matthias, der bereits zweimal diesen Akt über sich habe ergehen lassen müssen, sein Fehlverhalten nicht eingesehen. „Wenn Ihr das unbedingt wollt, dann müsst Ihr mich schon festbinden“, habe der Jugendliche gesagt, und der Trainer habe erwidert: „Na gut, dann halten wir Dich eben fest.“ Dann hätten sie zwei Seile aus einem Schuppen geholt und ihn am Querbalken des Tores festgebunden, die Seile allerdings nicht gestrafft, damit er sich noch ein wenig habe bücken und seinen Kopf schützen können – auf dieses Detail legen alle Beteiligten Wert. „Der Matthes hat sich nicht besonders gewehrt“, erklärt später der Co-Trainer Udo H., der als Zeuge aussagt, „wir haben da rumgealbert, daraus hat sich diese ganze Sache entwickelt“. Heute weiß er: „Wir haben versagt als Trainer.“ Denn sie schauten nicht nur zu. „Beide Trainer haben mitgeschossen“, erinnert sich ein Jugendlicher. Ein anderer sagt leise: „Ich habe mit Absicht vorbeigeschossen, weil ich während der Aktion gemerkt habe, dass das nicht in Ordnung ist.“ Jeder habe das „spielerisch und feixerisch“ erlebt, erinnert sich der Trainer. Aber als sich die Mutter des Jungen beschwerte und ihn zur Rede stellte, habe er sich entschuldigt, bei der Mutter und auch beim Jungen. „Damit war das Thema für mich vom Tisch“, sagt er.
Insgesamt drei Stunden dauert die Berufungsverhandlung, eine Stunde die Beratung der Kammer, die daraufhin das erstinstanzliche Urteil etwas abmildert: drei Jahre Betätigungsverbot in der Jugendarbeit „wegen groben Verstoßes gegen die Pflichten eines Jugendtrainers“, wie der Vorsitzende Bergs erklärt, dazu zwei weitere Jahre unter Bewährung. Dirk Z. hätte als Trainer einschreiten müssen und dazu ein denkbar schlechtes Beispiel abgegeben. „Sie brauchen eine Zeit der Besinnung“, erklärt der Fußball-Jugendrichter, „Sie sind kein Monster, aber Sie haben versagt als Trainer.“
Rot-Weiß Merl übrigens sind im vorigen Jahr Mitglieder weggelaufen, wie der Vereinsvorsitzende klagt. Die Jugendabteilung sei nur noch halb so groß wie früher. Matthias S. dagegen gehöre dem Verein nach wie vor an. Trainieren und spielen könne er derzeit allerdings nicht. Der Lehre wegen.
Erschienen am 8. Oktober 2004 in der Frankfurter Rundschau.