Die Sportart Handball, dessen Regeln vor 100 Jahren in Deutschland erstmals aufgeschrieben wurden, ist deutlich jünger als Hockey, Fußball, Basketball und Pushball. Warum wurde Handball dennoch populär?
Im Jahr 1924 berichtete die Zeitschrift „Der Leichtathlet“ über ein gar seltsames Spiel aus den USA. Im Pushball, das 1891 von einem gewissen M. G. Crane erfunden worden war und zuerst an der Universität Harvard betrieben wurde, ging es darum, einen rund 23 Kilogramm schweren Ball (Durchmesser: 1,80 Meter) auf einem Fußballfeld durch ein sechs Meter breites Tor zu bugsieren. Eine Mannschaft umfasste elf Spieler, den deutschen Zuschauern bot sich bei dem Demonstrationsspiel ein wildes Durcheinander. Heute wird Pushball kaum noch gespielt. Eine vergessene Sportart.
Auch in Deutschland wurden einige Spiele entwickelt, deren Namen heute fremd anmuten. Da wäre zum Beispiel das „Raffball-Spiel“, das der Braunschweiger Lehrer Konrad Koch, einer der Väter des deutschen Fußballs, 1891 präsentierte. Auch „Barlauf“, bei dem es um das Abschlagen der gegnerischen Spieler geht, war bis in die 1920er Jahre recht populär. Zudem gab es zahlreiche handballähnliche Vorläufer, die regional gespielt wurden, etwa Königsberger Ball, Pforzheimer Torball oder Wiesbadener Torball.
Viele dieser Spiele wurden von Turnern entwickelt, weil die Kinder und Jugendlichen in Massen zum englischen Sport abwanderten, der mit dem Fußball ein attraktives Spiel anzubieten hatte. Man fürchtete daher um die Zukunft des Turnens. Aber die meisten Turnspiele, zu denen auch Schlagball zählte, wurden nicht angenommen. Faustball, ebenfalls im Kaiserreich entwickelt, überlebte zwar, fristet heute ein Dasein als Randsportart. Aber warum konnte dann ausgerechnet Handball, das sehr viel jünger ist als Hockey (1852), Fußball (1863) oder Basketball (1891), so populär werden?
Es war kein Zufall, dass Handball vor 100 Jahren, mitten im Ersten Weltkrieg, erfunden wurde, genauso wenig wie die Tatsache, dass der Berliner Turnfunktionär Max Heiser, der heute als Gründungsvater gefeiert wird, dieses Spiel als reine Frauenvariante konzipierte. Denn da die Männer an der Front standen, bedurfte es, so hieß es programmatisch in der Deutschen Turn-Zeitung, „zur Aufzucht eines starken, wehrbaren Geschlechts auch starker, gesunder Frauen“. Die „Jungfrauen“ sollten körperlich ertüchtigt werden. „Das deutsche Land kann nur starke, im Herzen mutige Frauen, voll Lebensfrische und Tatendrang, keine Modepuppen gebrauchen.“ Viele junge Frauen, mit denen Heiser in Berlin sein neues Spiel in Exerzierhallen ausprobierte, arbeiteten in den Siemens-Werken.
Zu körperlich aber sollte das Spiel auch nicht sein. „Jedes körperliche Angehen, jeder Angriff auf den Gegner war verboten“, erklärte Heiser. Und natürlich sollten sie züchtig gekleidet sein. „Mit langärmeligen, weiten Blusen, Pumphosen und mit langen Strümpfen bekleidet und mit einem Faustball ähnlich großen Ball bewaffnet, stellten die Damen sich zum Wettspiel bereit“, so beschrieb Carl Schelenz, dessen Frau Else zu den Pionierinnen zählte, die Szenerie aus dem Jahr 1915, als Heiser seine ersten vielversprechenden Versuche startete.
Damals hieß das Spiel noch „Torball“. Doch als der „Ausschuss für das Frauen- und Mädchenturnen des Berliner Turnraths“ am Abend des 29. Oktober 1917 in einem Lehrervereinshaus in der Berliner Alexanderstraße 41 die Regeln für das Raffballspiel, Torball und Handball niederlegte, strich der Ausschussvorsitzende Heiser handschriftlich kurzerhand die Worte Raffball und Torball. Das war die formale Geburt des Handballs. Doch es fehlte nicht viel, und diese neue Sportart wäre schon einen frühen Tod gestorben.
Denn die Deutsche Turnerschaft (DT), mit über eine Million Mitgliedern seinerzeit die mitgliederstärkste Organisation der Welt, interessierte sich nicht für das neue Spiel. Handball beschränkte sich daher zunächst auf den Spielbetrieb im Berliner Turnrath, einem von vielen Bezirken des „Turnkreises IIIb Berlin-Brandenburg“. Die Bemühungen Heisers, der von vielen Funktionärskollegen als Träumer und Spinner verspottet wurde, zielten bei seinen Vorgesetzten ins Leere.
Erst als sich nach dem Ersten Weltkrieg die Deutsche Hochschule für Leibesübungen (DHfL), die im März 1920 als erste Sportuniversität der Welt gegründet wurde, sich dem Handball widmete, kam Schwung in die Sache. Der Sportlehrer Carl Schelenz wurde dabei von der DHfL-Leitung beauftragt, den Handball von einem unkörperlichen Frauenspiel in ein männliches Kampfspiel umzufunktionieren. Als Testspieler standen Schelenz die Sportstudenten zur Verfügung, er beschrieb diese Phase später als „erste Forschungsarbeit für die technische und taktische Gestaltung des Spiels“. Auf diese Weise entstand der Feldhandball, der auf einem Fußballfeld gespielt wurde.
Aber auch bei Hallensportfesten im Winter 1920/21 versetzten nun Demonstrationsspiele „die Zuschauermengen stets in Spannung“, wie die Zeitschrift Sport und Spiel im Juni 1921 zu berichten wusste. Inzwischen nahmen allein im Turnkreis IIIb schon über 100 Handball-Mannschaften am Spielbetrieb teil, und der Spielausschuss der DT hatte für 1921 erstmals eine Deutsche Meisterschaft ausgeschrieben. Warum der Sinneswandel?
Die Initialzündung war der Vorstoß der Konkurrenz aus der Berliner Leichtathletik, am 7. November 1920 eine Punktrunde im Handball zu starten und eigene Handballregeln zu veröffentlichen. Daraufhin warf die DT den Leichtathleten vor, ihnen das Turnspiel Handball gewissermaßen gestohlen zu haben und organisierten ebenfalls einen Spielbetrieb, und zwar in ganz Deutschland. Bis 1933, als die Nazis das demokratische Sportsystem zerschlugen, wurden daher mehrere Meister gekürt, bei den Leichtathleten, bei den Turnern, später auch im Arbeitersport. Nur manchmal traten diese Meister dann noch gegeneinander an, um die beste Mannschaft Deutschlands zu ermitteln.
Dieses plötzliche Engagement der Turner bedeutete den endgültigen Durchbruch des Handballs. Nun schossen überall neue Handballabteilungen wie Pilze aus dem Boden. Als die DT 1921 ein Regelheft veröffentlichte, hatte das neue Spiel schon „eine Ausdehnung erfahren, die noch Gewaltiges von dem Spiel erwarten lässt“, wie der Verfasser Helmut Lemcke glaubte. Euphorischer noch vermeldete der Pionier Schelenz 1922, dass wohl selten „ein neues Spiel so schnell eine so große Anhängerschaft erworben“ hatte. 1928 gab es schon Autoren, die den Handball als „Nationalspiel des deutschen Volkes“ feierten.
Die Gründe für den sensationellen Zuspruch lagen nicht allein in der institutionellen Konkurrenz unter den verschiedenen Turn- und Sportorganisationen. Den Rahmen bildete der Sportboom der Weimarer Republik, als dessen Humus die zwischenzeitliche Begrenzung der Arbeitszeit (Achtstundentag) und die daraus resultierenden Freizeitmöglichkeiten angesehen werden. Dazu entsprach Handball offenbar – genauso wie der Fußball – in besonderem Maße dem Zeitgeist. Er war modern.
Das neue Spiel erfüllte alle Ansprüche, die ein deutscher Sportler zu Beginn der 1920er Jahre an eine Sportart stellte: Handball verkörperte Härte, Aggressivität, Dynamik und Tempo. Hinzu kam, wie Schelenz später meinte, dass „zu seiner Ausführung und Erlernung die geringsten Schwierigkeiten in Bezug auf Anschaffung von Spielkleidung und Beherrschung der technischen Schwierigkeiten bestehen“. Man brauchte nur einen Ball, ein Fußballfeld, und los ging es. Zur Not konnte man sogar ohne Schuhwerk spielen, was sich als Vorteil gegenüber dem Fußball herausstellte. Lederschuhe konnte sich damals nicht viele Kinder und Jugendliche leisten.
Zum Sportboom gehörte unabdingbar auch die aufblühende Sportpublizistik. In der Weimarer Zeit berichteten teilweise über 500 reine Sportzeitungen über das Geschehen aus dem Fußball, aus der Leichtathletik und eben auch sehr ausführlich schon aus dem Handball. Die Zeitung Leichtathlet, das offizielle Organ der deutschen Leichtathleten, etwa publizierte auch Aktionsszenen vom Handball auf seinem Cover – ein Zeichen dafür, dass sich die Leser und Zuschauer für den Handball sehr interessierten.
So erhielten die besten Handballer aus dieser Pionierphase des Sports ein Gesicht. Die ersten Stars wurden geboren. Eine der ersten prägenden Figuren war Otto Günther Kaundinya, der mit dem Deutschen Handball-Klub Berlin 1928 Meister bei den Leichtathleten wurde und in dieser Zeit als der beste Handballer der Welt gefeiert wurde. Als Reichstrainer führte Kaundinya Deutschland bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin zur Goldmedaille und 1938 zu zwei WM-Titeln – in der Halle und auf dem Feld.
Handball als olympischer Sportart wäre undenkbar gewesen, wenn nicht die Deutsche Hochschule für Leibesübungen (DHfL) zahlreiche so genannte „Wandersportlehrer“, die in Berlin ausgebildet wurden, auch ins Ausland geschickt hätte, um dort das Spiel Handball zu demonstrieren und zu lehren. Auch hier zählte Schelenz zu den Pionieren, als er etwa nach Siebenbürgen reiste, um der dortigen deutschen Minderheit den Handball nahezubringen.
Ohne diese Internationalisierung des Handballs wäre diese Sportart, so beliebt sie in den 1920er Jahren schon war, womöglich schon bald wieder in Vergessenheit geraten. Bei der Gründung des Weltverbandes Internationale Amateur Handball Föderation (IAHF), die am Rande der Olympischen Spiele 1928 in Amsterdam stattfand, hatten deutsche Funktionäre eine zentrale Rolle gespielt. Schon in Amsterdam präsentierten die Deutschen den Funktionären des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) den Handball in einem Demonstrationsspiel.
Modernität und Internationalität bestimmen bis heute maßgeblich über Erfolg oder Misserfolg eines Sportspiels. Das haben auch die Handballfunktionäre, die mit dem Feldhandball sozialisiert worden waren, in den 1960er und 1970er Jahren bitterlich erfahren müssen, als ihr Spiel plötzlich als altmodisch und nicht mehr zeitgemäß empfunden wurde – und am Ende nur noch in Deutschland gespielt wurde. Der Feldhandball ging damals unter und existiert heute nicht mehr.
Steuerungsmöglichkeiten, den Handball attraktiv und modern zu gestalten, sind Regeländerungen. Diese Reformen des Regelwerks sind außerordentlich sensibel, weil man dadurch stets auch Traditionen berührt und das Spiel so drastisch verändern kann, dass sich Fans womöglich abwenden. Wie stark die Öffentlichkeit auf Zäsuren reagiert, zeigt die Debatte um das Verbot des Ballharzes, welche der Weltverbandspräsident Hassan Moustafa während der Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro unvermittelt anstieß. Andererseits muss sich eine Sportart verändern. Auch der Fußball hat durch Modifikationen der Abseitsregel 1925 und 1990 das Spiel, das in der Defensive zu erstarren schien, wieder attraktiver gemacht.
Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit unter, lautet eine Weisheit. Das gilt auch für eine Sportart wie Handball. Insofern ist die Szene auch dazu gezwungen, über die Zukunft des Beachhandballs zu diskutieren, allein schon um die Verbreitung des Spiels in Afrika, Ozeanien oder in der Karibik zu fördern. Finden solche Debatten nicht statt, droht dem Handball das gleiche Schicksal wie den Sportarten Raffball oder Pushball. Dann könnte es passieren, dass der Handball in 100 Jahren als vergessene Sportart beschrieben wird.
Erschienen in HANDBALL inside #17 (Oktober 2017)