Er galt in der Öffentlichkeit als „Fußball-Napoleon“, dabei war Dettmar Cramer vielmehr der väterliche Trainertyp. Davon profitierten Profis in der ganzen Welt – von Japan bis Griechenland. Ein Nachruf.
Hohe schwarze Lackstiefel, weiße Hose, französische Uniform aus dem frühen 19. Jahrhundert, die rechte Hand auf der Brust, den Dreispitz auf dem Kopf – das berühmteste Fotomotiv mit Dettmar Cramer präsentierte ihn als Napoleon Bonaparte, im Sommer 1976 im Münchner Olympiastadion. Ein Foto, das seinen Ruf geprägt hat. Seitdem war er der „Napoleon des Fußballs“.
Cramer hatte gerade zum zweiten Mal nacheinander mit dem FC Bayern München den Europapokal der Landesmeister gewonnen, den Vorläufer der Champions League. Im Dezember kam noch der Weltpokal hinzu. In seinen drei Jahren beim FCB (1974-1977) lief in der Bundesliga nicht alles glatt. Aber im Europapokal waren sie fast unschlagbar unter Cramer, der den väterlichen Typ Trainer repräsentierte – und damit eigentlich den Gegenentwurf eines Feldherrn darstellte.
„Herr Cramer, machen Sie sich keine Gedanken. Wenn wir jetzt schon im Endspiel sind, dann gewinnen wir auch“, beruhigten ihn die Bayern-Profis vor den Finals. Die Spieler über 40 Spiele lang in gleicher Motivationslage zu halten, lautete Cramers Fazit aus dieser Zeit, „das ist einfach nicht möglich“. Die Anekdote, dass er dem jungen, aufgeregten Karl-Heinz Rummenigge vor dessen erstem Europacup-Finale zwei Glas Cognac zur Beruhigung eingeschenkt hat, gehört zu den unzähligen Dettmar-Cramer-Storys.
Die Jahre um 1975 waren, rein sportlich betrachtet, seine größte Ära als Trainer. In Wirklichkeit war das aber nur ein winziger Abschnitt in dieser spektakulären Biografie als weit gereister Fußballlehrer. Geboren am 4. April 1925 in Dortmund, war Cramer mit neun Jahren in einen Fußballverein eingetreten. „Solange ich zurückdenken kann, habe ich mit Bällen gespielt“, hat er einmal berichtet.
Ein überragender Fußballer wurde zwar nicht aus ihm. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg, den er als Fallschirmjäger überlebte, begann er beim Westdeutschen Fußballverband eine bemerkenswerte Karriere als Trainer. Das Vorbild, das Cramer über alles verehrte, war der Trainer der Weltmeister von 1954. „Sepp Herberger hatte diese geniale Begabung, komplizierte Vorgänge in ganz praktischen Beispielen vorzutragen“, schrieb er 1995 im Buch „Fußballpsychologie“, in dem er diese Wissenschaft mit markanten Beispielen aus der Praxis illustrierte.
Mit der DFB-Trainerlizenz Nr. 24 ausgestattet, arbeitete er Herberger und Helmut Schön lange Jahre als Assistent zu. Er holte zum Beispiel Franz Beckenbauer 1964 in die Jugendnationalmannschaft. Wie das leuchtende Beispiel Herberger entwickelte sich auch Cramer mit der Zeit zu einem Fußball-Aphoristiker. „Im Spiel gibt es eigentlich nur zwei Probleme: Das sind Raum und Zeit. Wenn ich genug Platz habe, hab‘ ich genug Zeit für das, was ich tun muss“, lautete eine seiner zahlreichen Weisheiten. „Was war, zählt ja nicht“, eine weitere. Oder: „Aus einem traurigen Arsch kommt niemals ein fröhlicher Furz.“
1963 nahm Bundestrainer Herberger es Cramer sehr übel, als dieser ein Angebot des just gegründeten ZDF annahm. Doch die Zeit als Sportredakteur dauerte nur drei Monate. Cramer zog es zurück in das Fußballgeschäft, und er wurde zu einem Weltenbummler des Fußballs. In mehr als 90 Ländern unterrichtete Cramer den Fußball, zumeist im Auftrag des Weltverbands Fifa.
Schon 1960 hatte er in Japan trainiert, nach 1967 arbeitete er für die Fifa wieder in Fernost und gewann mit der Nationalmannschaft bei den Olympischen Spielen 1968 die Bronzemedaille. „Ich weiß nicht, wer mehr gelernt hat, die Japaner von mir oder ich von den Japanern“, sagte er später. 1991/92 coachte er die südkoreanische Olympia-Auswahl.
Aber auch als Klubtrainer war er international gefragt, außer bei Eintracht Frankfurt (1978) und bei Bayer Leverkusen (1982-1985) wurde er von Saudi-Arabien bis Griechenland beschäftigt.
Überall beeindruckte er die Fußballer mit seinem direkten Zugang, dieser Mischung aus Psychologie und handfester Praxis. Wenn der legendäre Torjäger Gerd Müller länger nicht getroffen hatte, fragte ihn Cramer: „Du, pass mal auf, dieses Tor in Ostrava damals, das du geschossen hast, wie war das eigentlich, wo kam denn die Flanke her?“ Und dann musste Müller die ganze Geschichte dieses Tores erzählen, und das half schon. Danach traf er wieder, nach dieser Art der Autovisualisierung. Das sei das Wichtigste in der pädagogischen Arbeit, hatte Cramer am Ende seines Lebens immer wieder betont, dieses „Mittel der Überzeugung“.
In der Nacht zu Freitag ist einer der größten Überzeugungstäter des Fußballs im Alter von 90 Jahren gestorben.
Erschienen am 18. September 2015 bei SPIEGEL Online.