Fußball zwischen Fasching und Freimaurerei.
Dass eine Fußballmannschaft ausgerechnet aus elf und nicht etwa aus zehn oder zwölf Spielern besteht, gilt heute, wie überhaupt die ganze Grammatik des Fußballs, als selbstverständlich. Die Größe des Spielfelds, die Ausmaße der Tore, die Aufteilung der Mannschaft in Torwart, Abwehr, Mittelfeld und Angriff: All dies ist außerhalb jeder Diskussion. Und die Anzahl der Spieler ist so unangefochten wie der Umstand, dass Leichtathleten stets links herum laufen – wo sie doch, dies nur nebenbei, bei den Olympischen Spielen 1896 in Athen noch nach rechts rannten.
Ist der Fußball also eine Naturkonstante? Die Geschichtsschreiber haben sich jedenfalls mit der Entstehung der Regeln dieses Sports kaum beschäftigt. Und zur Elf findet sich – nichts. Natürlich ist dafür auch die lausige Quellenlage verantwortlich. Denn die „Gesetzestafeln des Fußballs“ („Laws ot the Game“) – jene vierzehn Ur-Regeln, die im Dezember 1863 in London von der im gleichen Jahr gegründeten Football Association (FA) festgelegt wurden – schweigen sich über die Spielerzahl aus.
Ohnehin finden sich kaum Anhaltspunkte für numerische Gesetzmäßigkeiten. Zwar schimmert das Dezimalsystem durch – die Länge des Spielfelds betrug maximal 200 Yards, die Breite 100 Yards. Auch der Mindestabstand bei Anstoß und Freistoß war damals schon zehn Ayrds (9,15 Meter). Davon abweichend, betrug die Entfernung zwischen den beiden Torpfosten jedoch die bis heute maßgeblichen acht Yards (7,32 Meter). Die acht Fuß (2,44 Meter) für die Höhe des Tores wurden erst später hinzugefügt. Erst der 1886 entstandene International Football Association Board (IFAB), der bis heute über die Regeln des Fußballs wacht, legte die Anzahl der Spieler definitiv fest. „The game should be played by 11 Players on each side“, heißt es seit dem 14. Juni 1897 in den international gültigen Fußballregeln.
Dass die Zahl Elf anno 1863 noch nicht auftaucht, lässt sich erklären. Als Hauptgrund gilt der schwere Konflikt, der auch nach der Gründung der FA zwischen den Fraktionen aus Rugby und Cambrigde weiterschwelte: Energisch versuchten beide Fußballschulen, ihre Regeln durchzusetzen. Erst mit der Zeit setzten sich die Verfechter der Cambridge-Regeln das Verbot brutalen Tretens nach dem Gegner (hacking) sowie das Berühren des Balles mit der Hand durch. Um 1870 war dann klar, dass es zwischen Rugby, das 15 Spieler pro Partie vorsah, und dem sogenannten Association Football keinen Kompromiss mehr geben würde.
Argumentiert wird ferner, die schriftliche Festlegung auf elf Spieler sei überflüssig gewesen, weil in der Praxis bereits überwiegend so verfahren wurde. In der Tat sind für Sheffield bereits vor 1863 siebzehn Klubs nachgewiesen, die elf gegen elf spielen ließen. Eine Fußballmannschaft wurde in der englischen Sportsprache um 186o für gewöhnlich als „Eleven“ bezeichnet. Sogar dann, wenn, wie im Fall des ersten nach offiziellen FA-Regeln ausgetragenen Spiels zwischen den Teams aus Harrow und Cambridge, 1864 in Wirklichkeit elf gegen vierzehn Akteure antraten.
Schriftlich verbürgt ist das „eleven-a-side“-Prinzip zum ersten Mal im Jahre 1841 für ein Spiel an der Eliteschule in Eton. Englands Fußballforscher nehmen deshalb an, dass Cambridge, maßgebliche Triebfeder bei der Schaffung der Regeln, diese Vorgabe einfach übernahm. Warum man aber in Eton elf gegen elf spielte, verschweigen die Quellen.
Das rief so manche Verschwörungstheorie auf den Plan. Als nationale Aufsichtsbehörde hatte sich die FA in der Londoner „Freemason’s Tavern“ gegründet – und zwar durch Vertreter von elf Klubs und Schulen. Dem Gründungsort des organisierten Fußballs in der Great Queen Street hat die Geschichtsschreibung bisher keine Bedeutung zugemessen. Betrachtet man aber die frühen Aktivitäten der englischen Freimaurer, lässt sich zumindest über die Beteiligung der Loge am Gründungsakt der FA spekulieren.
Der Historiker Reinhart Kosellek hat beschrieben, wie die Freimaurer im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft nach Konzepten suchten, um Werte wie Humanität, Toleranz, Gleichheit und Freiheit des Geistes durchzusetzen. Sie waren beteiligt an der Gründung verschiedener wissenschaftlicher Organisationen. Darf es mithin als reiner Zufall betrachtet werden, wenn die weltweit erste Fußballorganisation just am selben Ort aus der Taufe gehoben wurde wie die Royal Astronomical Society (1820) pder der englische Ableger der National Geographic Society (1888)? War der Fußball gar gedacht als Modell zur Demokratisierung? Als Spielplatz. der wie kein anderer Chancengleichheit für alle Beteiligte symbolisierte?
Geheimbünde wie die Freimaurer maßen den Zahlen stets große Bedeutung zu. Noch näher kommt man dem Geheimnis der Elf, wenn man die Zahlenmystik des Mittelalters betrachtet. In den Glossaren der Heiligenlexika sowie der im Mittelalter blühenden Allegorese – der von Theologen praktizierten Deutung biblischer Texte, die hinter dem Wortlaut einen verborgenen Sinn sucht – wurde die Elf als Zahl der Maßlosigkeit und der Sünde beschrieben. Anders als die Zehn, die stets als Chiffre des in sich Vollendeten und Ganzen sowie als Symbol des Kreises gelesen wurde, überschreitet die Elf diese Vollendung um eins. Ganz konkret: Sie übertrat die Zehn Gebote. „Elf! Eine böse Zahl … Elf ist die Sünde. Elf überschreitet die zehn Gebote“, heißt es 1800 in den Piccolomini von Friedrich Schiller.
Nicht von ungefähr beziehe sich „auch der elfte Psalm auf die Sündhaftigkeit der Welt, auf das Verschwinden von Zucht und Ordnung, Treue und Glauben“, meint der Fußballphilosoph Christoph Bausenwein in seinem Werk Geheimnis Fußball. Der entscheidende Hinweis aber ist: Bei der Elf handelt es sich um die Symbolzahl der Narren – dokumentiert nicht nur um Rheinland, wo der 11.11. seit dem Ende des 19. Jahrhunderts den Beginn der Karnevalszeit markiert und in dem bis zum Aschermittwoch ein „Elferrat“ regiert. Wer einmal Gelegenheit hatte, während des Kölner Karnevals einem Fußballspiel beizuwohnen, wird die Nähe zwischen Fußball und Fasching intuitiv wahrgenommen haben.
Der Clou dabei: Diese Verbindung ist historisch. Waren die meisten Fußballspiele im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit doch nicht selten ritueller Bestandteil ausschweifender Fastnachtsbräuche. Zudem waren sie „nichts anderes als Gesetzesverletzungen“, wie der Soziologe Norbert Elias nachgewiesen hat. „Wilde“ Fußballspiele, die vor der Kodifizierung im Jahre 1863 eher den Charakter einer wüsten Schlägerei hatten, wurden oftmals von der Obrigkeit verboten, weil sie die öffentliche Ordnung gefährdeten, zu schweren Verletzungen oder gar zum Totschlag führten.
Die Belege dafür sind Legion. Berühmt ist das 1313 in London verkündete Verdikt von König Edward II., das „gewisse Zusammenrottungen“ untersagte, „die von großen Fußballspielen auf den öffentlichen Plätzen herrühren“. Die letzten überlieferten Verbote des Fußballs vor der Gründung der FA datieren aus den Jahren 1830 (Berley) und 1847 (Derby). Als Eliteschulen wie Harrow, Eton, Rugby und die Universität Cambridge daran gingen, diese Wildheit zu zähmen, war die Elf also bereits ein gewohntes Relikt aus früherer Zeit. Und obwohl die Zahl mit negativer Symbolik besetzt war, schrieb man sie am Ende des 19. Jahrhunderts schließlich fest.
Fortan konnte sie unbeschwert Karriere machen und zur berühmtesten Zahl des modernen Sports werden.
Erschienen im Mai 2005 in Anstoß # 2, Zeitschrift des Kunst- und Kulturprogramms zur FIFA WM 2006.