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Der radikale Gegenentwurf zum WM-Lärm

Auf die Halligen schwappt der Fußballpatriotismus nicht über.

 

Hooge (Nordfriesland). An den Tagen, an denen Deutschland über die Wade von Michael Ballack spekuliert, beschäftigt sich Jörn Rolf mit der Sicherung seiner Zukunft. Der 34-Jährige blickt aus seinem vom Wind gegerbten Gesicht zufrieden auf die vor ihm liegende Baustelle: Er führt hier in Hooge eine kleine Pension, ist daran, sein Haus zu renovieren, und plant einen gesicherten Lebensunterhalt. Alles ist auf diesen zehn Quadratkilometern Fläche bilderbuchfriesisch: das landschaftliche Idyll, die unendliche grüne Weite. Die blau-weißen Fliesen in den Häusern, die niedrigen Decken, die Windmühlen und die bäuerlichen Motive. Die Sonne strahlt, ein leichter Wind weht aus Westen, das Salz der sattgrünen Wiesen duftet intensiv, und im Süden schimmert gelblich am Horizont eine Sandbank, auf der sich Hunderte von Seehunden sonnen. Und dann diese Ruhe. Kein Auto bewegt sich über die schmalen Wege. Man bekommt schnell ein Gefühl dafür, weshalb man Hooge die «Königin» der insgesamt zehn Halligen nennt, die sich flach wie eine Flunder auf das Wattenmeer vor der nordfriesischen Küste schmiegen.

Doch der beschaulich-friedliche Anblick trügt. Im Herbst und im Winter kommen die Stürme, die Springfluten, die mit Macht über den nur 1,50 Meter hohen Deich spülen und die Hallig «blank machen», wie die Einwohner hier sagen, andere nennen es «Land unter». Dann ragen nur noch die neun Warften und die mit Riedgras gedeckten Häuser aus dem Wasser, diese Erdhaufen, die wie riesige Maulwurfshügel auf der Hallig thronen. Dann ist auch die Lorenz-Warft, auf der Rolfs Haus steht, im Kampf gegen die Fluten auf sich allein angewiesen. Deswegen freut sich Rolf über die Verstärkung der Warft, die von der EU finanziert wird.

Vielleicht liegt es an diesem Blick aufs Wesentliche, dass der deutsche Fußballpatriotismus noch nicht auf Hooge übergeschwappt ist, dass er irgendwo verloren gegangen ist auf der Fähre, die eine Stunde vom Festland hierher braucht. Während ganz Deutschland schwarz-rot-gold-beflaggt ist, neuerdings sogar die Autos, dominieren auf Hooge die Farben Blau-Rot-Gold, die Farben Nordfrieslands. Auf einigen prangt der friesische Spruch «Lewer duad üs slaw», was heißt: «Lieber tot als Sklave.» Und wenn doch einmal ein Banner mit den deutschen Farben flattert, dann meistens gemeinsam mit einem nordfriesischen. «Aber die nordfriesischen Fahnen sind immer grösser», sagt Rolf und grinst.

Einen richtigen Sportplatz gibt es hier nicht, nur zwei Tore, die verlassen auf einer Salzwiese stehen. «Manchmal spielen wir hier gegen die Touristen», erzählt Rolf. Beliebter ist Boßeln, das Volksspiel der Friesen. Zwischen Silvester und Aschermittwoch wirft man dann hier eine mit einem Bleikern versehene Holzkugel über die Feldwege – und wärmt sich zwischendurch, wenn der Wind die Muskeln zu sehr gekühlt hat, mit Spirituosen.

Hooge ist in diesen Tagen so etwas wie der radikale Gegenentwurf zu den Städten im Land. Dort diese futuristischen Arenen, diese modernen Wahrzeichen des Fussballs, hier einsame Warften, die aus ein paar Kilometern den Eindruck erwecken, als stünden sie ganz allein in der Nordsee. Dort dieser Lärm, hier diese Abgeschiedenheit, die nur gestört wird von den spitzen Schreien der Lachmöwen, Austernfischer, Säbelschnäbler, Kiebitze und Brandgänse. Die gefühlte Entfernung zur Weltmeisterschaft ist hier noch viel größer als die rund 150 Kilometer zum nächsten WM-Standort Hamburg, es ist ein Platz für Fussball-Flüchtlinge. «WM-To(r)tal», so heißt es zwar auf einer Tafel vor der Kneipe «Zum Seehund», die auf der Hanswarft steht, der größten Warft auf Hooge. Für das Spiel Deutschland – Costa Rica aber bedeutet der Slogan konkret: Zwei Kellner, die sich schwarz-weiße Trikots mit dem Schriftzug «Caribbean Soccer Team» übergestreift haben, drei Ehepaare auf Urlaub, und sonst nur leere Stühle, verlassene Tische. Die Sicht auf den Fernseher in der Ecke ist frei.

Erst zum zweiten Spiel, Ecuador gegen Polen, wird es lebendiger. Nicht nur die vier Praktikanten und Zivildienstleistende, die ein paar Meter weiter in dem Informationszentrum «Schutz-Station Wattenmeer» arbeiten, sind jetzt dazugestoßen. Auch 3 der über 25 polnischen Arbeitskräfte, die regelmässig zur Sommersaison auf die Hallig kommen. Mit der Zeit ruht auch die weißrote Fahne, die sie noch zu Spielbeginn enthusiastisch geschwenkt haben, die beiden Tore der Südamerikaner hinterlassen Wirkung. Erst kurz nach Schlusspfiff finden die Masuren den Humor wieder. «Keine Sorge, Freunde», kräht einer freudig, «Mittwoch!» Polen gegen Deutschland. Die anderen Gäste haben das Lokal längst verlassen. Die «Königin der Halligen» hat das Ringen für sich entschieden. Das Leben hier, diesen Kampf gegen Wind und Wellen, würde selbst der vierte deutsche WM-Titel nicht verändern.

Erschienen am 13. Juni 2006 in der Neuen Zürcher Zeitung.

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