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Der überhöhte Athlet

Jack Shea war 1932 der erste Olympionike auf einem Podest.

 

Wieder auf dem Podest. Ein fast schon gewohntes Gefühl für Jack Shea. Wenige Stunden zuvor, während der Eröffnungsfeier zu den dritten Olympischen Winterspielen 1932 in Lake Placid, hatte der 21-Jährige den olympischen Eid für die Athleten gesprochen, noch auf der unteren Stufe dieser unfertig wirkenden Holzkonstruktion stehend. Jetzt, da er mittlerweile die Konkurrenz im 500-Meter-Eisschnellauf gewonnen hatte, stand er ganz oben, in der Mitte. Der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees musste sich strecken, ihm die Goldmedaille über den Kopf zu streifen.

Dieses Bild vom überhöhten Sportler scheint heute wie selbstverständlich, wirkt wie einbetoniert in die Ikonographie der Olympischen Spiele. Im Winter 1932 jedoch hatte das Podest Premiere. Zuvor mussten die Olympioniken auf Podien steigen, die Adel, Schirmherren und Funktionäre über das gemeine Volk des Sports stellten. In Lake Placid, diesem Dörfchen nahe der kanadischen Grenze, also die Umkehr. Von nun an thronten die Sportler als Protagonisten sportlicher Moderne, die Honoratioren gerieten zum Beiwerk.

Jack Shea gewann einen Tag darauf erneut eine Goldmedaille, diesmal über 1500 Meter. Aber der erste Sieg blieb für Shea das Highlight seiner Karriere. Das Hissen der amerikanischen Flagge während der Zeremonie des Triumphes – das war es, wonach er als Patriot gestrebt hatte. „Der erste Sieg“, so Shea, „war der, den ich am meisten wollte.“

Vier Jahre später, immer noch sprintete Shea auf Weltniveau, wollten ihn US-Sportfunktionäre zu einer Teilnahme bei den Winterspielen 1936 bewegen. Aber der mittlerweile 25-Jährige verweigerte den Start in Garmisch-Partenkirchen, diesem propagandistischen Testlauf für die Sommerspiele in Berlin. „Ich wusste, was seinerzeit in Deutschland vor sich ging“, sagte Shea, und er habe es missbilligt. Angesichts der Diskriminierung der Juden durch das Hitler-Regime musste der Rabbi der jüdischen Gemeinde in Lake Placid nicht einmal Überzeugungsarbeit leisten. Wenn sich alle US-Sportler zu diesem Boykott entschieden hätten, die Olympischen Spiele unterm Hakenkreuz wären zum Offenbarungseid für die nationalsozialistische Sport- und Außenpolitik geworden. So, da der olympische Gleichheitsgrundsatz mit Füßen getreten wurde, gerieten sie zur Farce.

Jack Shea, Sohn eines Lebensmittelhändlers und Abgeordneten, wohnte sein ganzes Leben in Upstate New York. Angesichts der wirtschaftlichen Depression Anfang der dreißiger Jahre – die Olympiasiege eines Amateurs im Wortsinn halfen nicht darüber hinweg – vermochte er sein hoffnungsvolles Jura-Studium nur ein Jahr zu finanzieren. Dann arbeitete der Familienvater als Briefträger, bis er den Betrieb seines Vaters übernahm. Nachdem er 16 Jahre ehrenamtlich als Schlichter fungiert hatte, wurde er 1974 „Supervisor“, eine Art Bürgervorsteher des Distrikts North Elba, in dem Lake Placid liegt. Und Shea wurde zur Symbolfigur, als sich der unscheinbare Ort 1974 erneut für die Winterspiele bewarb und für 1980 tatsächlich zugesprochen bekam. Dass Shea im Organisationskomitee wirkte, verstand sich von selbst.

Das olympische Virus hatte zu dem Zeitpunkt längst seine Familie infiziert. Einer seiner vier Söhne startete bei den Winterspielen 1964 Innsbruck, als Skilangläufer und in der Kombination. Und vor gut vier Wochen qualifizierte sich sein Enkel Jim, einer der weltbesten Skeleton-Piloten, für die in vierzehn Tagen beginnenden Spiele von Salt Lake City. Als erste Familie stellten die Sheas damit drei Athleten-Generationen bei Olympischen Winterspielen; willkommener Anlass für das US-Fernsehen, einen rührenden Olympia-Trailer mit Großvater, Vater und Sohn zu produzieren. Senior Shea brannte schon auf die Eröffnungszeremonie in Salt Lake City, die ihn als Ehrengast vorsah. „Es wird wundervoll sein, Jimmy in das Stadion einmarschieren zu sehen“, sagte er vor wenigen Wochen, „wie stolz ich darauf sein werde, das ist nicht mit Geld zu bezahlen.“ Zwei Wochen haben ihm gefehlt.

John Amos „Jack“ Shea, geboren am 7. September 1910 in Lake Placid, starb am 22. Januar in Saranac (NY) an den Folgen eines nicht von ihm verschuldeten Verkehrsunfalls. Er war 91 Jahre alt.

Erschienen am 26. Januar 2002 in der WELT.

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