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Und am Ende standen sie Spalier, klatschten Beifall und sammelten Autogramme

Eintracht-Stürmer Erwin Stein erinnert sich an das finale Europapokalspiel vor 42 Jahren im Hampton-Park zu Glasgow gegen Real Madrid.

 

Es gibt Orte und Tage, die fräsen sich auf ewig ein in das Gedächtnis eines Fußballspielers. Für Erwin Stein war der 18. Mai 1960, der Tag des Endspiels um Europapokal der Landesmeister, exakt ein solcher. Als Mittelstürmer von Eintracht Frankfurt betrat er seinerzeit das sagenumwobene Spielfeld des Glasgower Hampden-Parks, stand plötzlich inmitten dieser dunklen, bedrohlichen Masse von 133 000 Zuschauern. „Bei so vielen Leuten“, sagt Stein, „schlackern einem die Knie“. Besonders eindrucksvoll fand er den berühmten Hampden-Roar, das Anschwillen dieser brutalen Lautstärke: „Einer beginnt, dann schreit ein Block, dann die gesamte Arena. Und weil das Stadion mitten im Wohngebiet liegt, kommt der Hall genauso laut zurück“, schwärmt Stein noch heute.

Heute läuft Bayer Leverkusen vor nur 60 000 Zuschauern auf, wie ehedem Eintracht Frankfurt aber erwartet die Mannschaft von Klaus Toppmöller denselben, von Mythen umrankten Gegner: Real Madrid. Ein Spiel für die Ewigkeit wird das für viele Leverkusener werden, viele Szenen werden ihnen lange präsent sein. So wie Stein nie die Situation aus der 18. Minute vergessen wird: „Ich bin auf halbrechts raus, im Sprint“, sprudelt es aus ihm heraus, „und kurz vor der Auslinie hab‘ ich den Ball erwischt und hab‘ ihn hart reingeflankt. Der Richard Kreß, mit dem ich gerade die Position gewechselt hatte, hat ihn dann mit dem Innenrist ‚reingedrückt“. Der krasse Außenseiter führte.

Dieses 1:0 am 18. Mai 1960 kam einer Majestätsbeleidigung gleich. Schließlich thronte Real seit 1955, als die kontinentale Vereinsmeisterschaft eingeführt worden war, als König über Fußball-Europa, hatte die ersten vier ausgespielten Landesmeisterpokale ungefährdet gewonnen. „In dem Moment, als feststand, dass Real Madrid der Gegner sein würde“, erinnert sich Stein, „vibrierte der ganze Verein und auch wir Spieler“. Die Wochen bis zur Begegnung mit dem Mythos seien vergleichbar gewesen mit der Phase vor einer Weltmeisterschaft: „Jeder, der in Frage kam für das Endspiel, hat sich gedacht: Um Gottes willen, ich werd‘ doch nicht verletzt sein bei dieser einmaligen Gelegenheit.“

Alle Spieler im weißen Trikot waren Fußball-Ikonen. Dass die Madrilenen aber auch nur zwei Beine besaßen und sich außerdem den fiesen Tricks gewöhnlicher Erdenbürger bedienten, diese Erfahrung machte dann auch Erwin Stein. Der Stürmer hatte das zweifelhafte Vergnügen mit Santamaria, einem der besten Stopper der Welt, genannt „die Wand“. „Der war wirklich langsamer als ich“, beteuert Stein noch heute, und dennoch habe er seinen schnellen Antritt und knallharten Schuss nur selten anbringen können: „Ich kam selten vorbei, weil er einem während dem Laufen die Hose ausgezogen hat.“ Stein selbst, behauptet er heute, ist damals nicht in Ehrfurcht versunken.

Auch nicht im Fall Alfredo di Stefanos, dem „Riesenvorbild“ und gleichzeitig die Verkörperung der Überlegenheit des spanischen Vereinsfußballs. Auf dem Papier Mittelstürmer, tauchte der argentinische Superstar überall auf dem Spielfeld auf, nahm so den heutigen Fußball vorweg. Di Stefano, das machte jede seiner Aktionen deutlich, dachte und handelte modern. „Der war ja ’ne Nuance besser als ich“, sagt Stein mit feiner Ironie, „ich habe Hochachtung vor ihm gehabt, aber dass ich da jetzt schwache Knie gekriegt hätte vor diesen Leuten, das auf keinen Fall“.

Nicht alle aber agierten so selbstbewusst wie Stein, vor allem der eine oder andere Abwehrspieler sei nahezu andächtig zu Werke gegangen. Stein schildert die spielentscheidende Szene: „Einer von unseren Spielern stand zwei, drei Meter vor der Torlinie, auf den kam ein Ball zu, kein harter, den hätte sogar meine Großmutter weggetreten. Aber vor lauter Aufgeregtheit hat dieser sonst verlässliche Spieler über den Ball getreten, da war er drin.“ Genau in dieser Übermotivation habe der Unterschied zum Halbfinale gelegen, in dem Frankfurt die Glasgow Rangers noch mit 6:1 und 6:3 zerlegt hatte. „Glasgow war eben nicht Real“, so Stein lakonisch. Glasgow war eben profan, Real dagegen umwehte eine geheimnisvolle, fast religiös anmutende Aura.

Als di Stefano einen Elfmeter verwandelte und drei Minuten später die Führung erzielte, brach die Frankfurter Spielkunst zusammen. Der Argentinier schoss insgesamt vier Tore, sein kongenialer ungarischer Sturmpartner Ferenc Puskas drei. Madrid übte Dominanz aus, spielte die Deutschen völlig auseinander. „Eine schöne Packung haben wir da gekriegt“, sagt Stein. Dass er die beiden Tore zum 2:6 und zum 3:7-Endstand erzielte, darauf ist Stein immer noch stolz.

Was dann geschah, wirkt rührend, altmodisch, aus völlig anderen Fußballzeiten. Denn nachdem die Madrilenen ihre ausführliche Ehrenrunde beendet hatten, bildeten die unterlegenen Halbprofis aus Frankfurt den Halbgöttern in Weiß ein Spalier und klatschten Beifall. Der Trainer habe sie dazu animiert, so Stein, schließlich habe das „die Fairness erfordert“. Später, beim gemeinsamen Bankett, holten sich die Frankfurter, die für ein paar Minuten die Weltstars geärgert hatten, „von denen ein Autogramm“. Der Beweis, dass in Wirklichkeit nicht zwei Fußballteams gegeneinander angetreten waren, sondern Fans gegen ihre Idole.

Diese Details einer grandiosen Fußballpartie mögen dazu beigetragen haben, dass dieses Spiel seinerseits zum Mythos geraten sollte. Zum „Spiel des Jahrhunderts“ wählte es kürzlich die britische Fachzeitschrift FourFourTwo, und die fußballkundige BBC wiederholte 30 Jahre lang ihre schwarzweißen Aufnahmen an Weihnachten, gewissermaßen als Geschenk. In der Wohnung Erwin Steins kündet keines von den damaligen Autogrammen, kein Pokal, kein Wimpel vom Fußball, gibt auch nur irgendeinen entfernten Hinweis darauf, dass er überhaupt teilgenommen hat an diesem Spiel.

Stein ist traurig darüber, dass ihm die goldene Uhr, die Real allen Frankfurter Spielern schenkte, gestohlen wurde. „Wegen des ideellen Wertes“, so Stein, schließlich bedeutete dieses Finale seinen Karriere-Höhepunkt. Obwohl sich Stein die Uhr nicht mehr anschauen kann, weiß er doch noch, „dass die Krone des Vereinswappens das Ziffernblatt zierte“. Ganz offenbar hat er intensiv jedes noch so kleine Detail dieser flüchtigen Bekanntschaft mit Real aufgesogen.

Erschienen am 15. Mai 2002 in der Frankfurter Rundschau

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