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Wo der Ball herkommt

Englands National Football Museum steht in Preston – denn hier wurde einst der erste Meister der Profis bejubelt.

 

Eine kuriose Szene aus den Anfängen des englischen Profifußballs ereignete sich im Jahre 1891. Im Match zwischen Stoke City und Aston Villa entschied der Schiedsrichter kurz vor Spielende auf Penalty für Stoke. Ein beliebiger Spieler der Heimelf hätte nun, so lautete die just eingeführte Regel für diesen Fall, von irgendeinem Punkt der Zwölf-Yard-Linie aufs Tor schießen können – wenn sich nicht der Keeper von Aston Villa den Ball gegriffen und ihn derart weit weggedroschen hätte, dass die Spielzeit ablief, bevor das Leder wieder zur Verfügung stand. So beendete der Schiedsrichter den Regeln entsprechend die Partie, ohne den Strafstoß noch ausführen zu lassen. Die Reaktion der einheimischen Spieler und Zuschauer ist nicht überliefert, aber vorstellbar. Und natürlich wurden die Fußballregeln bald dahingehend ergänzt, dass ein verhängter Penalty in jedem Fall noch geschossen werden sollte.

Das ist nur ein winziger Baustein der englischen Fußballgeschichte, die im „National Football Museum“ seit einem Jahr in Preston ausgestellt ist. In diesem Museum steht ein als „Story of the Rules“ bezeichneter interaktiver Tisch, der die Historie der Fußballregeln sehr anschaulich zu illustrieren vermag. Ganz ähnlich wird die Geschichte der Fußballtaktik aufgelöst, auch hier nämlich kann man bei Bedarf respektive „Klick“ anhand von Filmsequenzen durch die verschiedenen historischen Fußballformationen surfen.

Beide Abteilungen sind Bestandteil eines als Galerie bezeichneten Raumes, der außerdem mit Bildern, Skulpturen und anderen Installationen verschiedenste moderne künstlerische Zugangsformen zum Fußball in sich birgt. Von museumspädagogischer Intelligenz zeugt die Idee, die Entwicklung der Gebrauchsgegenstände des Fußballs von den Besuchern ertastbar zu machen: Hier kann jeder den Unterschied fühlen zwischen den schweren Lederbällen aus dem 19. Jahrhundert und den heutigen High-Tech-Produkten, die von selbst zu fliegen scheinen. Genauso werden antike Schienbeinschützer, Jerseys und Schuhe den modernen Ausführungen gegenübergestellt.

Dass ausgerechnet die Industriestadt Preston im Bauch des Deepdale Stadiums die Geschichte der englischsten aller Sportarten verwaltet, ist ziemlich plausibel: Diese Stadt im Nordwesten Englands, im Dreieck zwischen Blackpool, Manchester und Liverpool gelegen, stellte mit Preston North End in der Saison 1888/89 den ersten Meister der englischen Profiliga. Preston ist zweifelsohne die Wiege des modernen Fußballsports, und wie stolz es immer darauf gewesen sein muss, beweist allein die unglaubliche Vielzahl an frühen Dingen des Fußballs. Eine Art Tischfußballspiel, „made in Preston in 1884“, ist beispielsweise ausgestellt, dazu Legionen von Bechern, Zigarettenetuis, Sammelbildern, Büchern, Bronzefiguren, Pokalen und Bildern, die ausschließlich dem frühen Fußball geweiht wurden. Aber auch wollene Jerseys und hundert Jahre alte Rasseln („supporters rattle“) dienen als unbestechliche Zeugen dieses populären Phänomens Fußball, das von hier seinen Ausgang nahm und mittlerweile globale Ausmaße bekommen hat.

Das Museum beschränkt sich freilich nicht auf die örtlichen Anker der Erinnerung, sondern besitzt nicht nur dem Namen nach einen nationalen Anspruch. Beweis genug dafür ist die viel gepriesene Abteilung mit den Exponaten der „FIFA Museum Collection“, einschließlich des Ölgemäldes „Football“ von Thomas Webster aus dem Jahre 1839, der wohl bekanntesten Fußballdarstellung des 19. Jahrhunderts. Und natürlich darf der Besucher im hinteren Ausstellungsbereich auch zahlreiche Exponate aus der jüngeren englischen Fußballgeschichte bewundern.

Etwa das 1966er Trikot von Weltmeister Bobby Moore oder das Halsband eines Hundes namens Pickles, der 1966 den gestohlenen WM-Pokal „Coupe Jules Rimet“ wiederfand. Ein echtes Highlight ist auch das Nackenkorsett des deutschen Keepers Bert Trautmann, dem von den Engländern als Held verehrten Profi, der im FA-Cupfinal 1956 trotz Genickbruchs erst dann in sich zusammensackte, als der Sieg Manchester Citys gegen Birmingham City feststand.

Und weil Fußball in England ganz selbstverständlich als kultureller Gegenstand gilt und keinesfalls als profanes oder gar triviales Gebilde, sind all diese Exponate kulturgeschichtlich eingerahmt. Was beispielsweise das Viktorianische Zeitalter, die beiden Weltkriege oder die große Rezession der Thatcher-Ära für den Fußball bedeuteten – das wird hier über zahlreiche Medien erklärt.

Nur scheint manchmal der akustische Einsatz etwas übertrieben, so etwa die nervtötenden, durch weite Teile des Museums zu hörenden Radioaufnahmen, in denen Hitler seine Hasstiraden gegen England brüllt. Alte Film- und Fernsehbilder geben allerdings einen tollen Eindruck englischer Fußballgeschichte.

So etwa die Filmsequenzen der „Schlacht von Highbury“ zwischen England und Italien im November 1934, in dem die Engländer den wahren Weltmeister ermitteln wollten (und 3:2 gewannen). Oder auch die eindrücklichen Aufnahmen anno 1964, in denen ein BBC-Reporter von den neuartigen Popgesängen an der Liverpooler Anfield Road berichtet, während hinter ihm die legendäre Stehplatztribüne den Beatles-Song „She Loves You“ schmettert. Jedem, der jemals ein Gefühl für Fußball entwickelt hat, wird angesichts solch dichter Aufnahmen ein kalter Schauer über den Rücken laufen. Allein diese Bilder belegen, dass auch die Geschichte dieses Spiels die Menschen berühren kann. Das Museum ist ein Vorbild für Deutschland.

Erschienen am 21. April 2002 im Tagesspiegel.

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