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Flankengeber

Vor 100 Jahren trug die Fußballnationalelf ihr erstes Länderspiel aus. Solche Begegnungen wurden immer auch politisch genutzt, nicht zuletzt vom DFB selbst.

 

Von Erik Eggers Im Herbst 1955 erkannte Jupp Röhrig, dass er mehr als nur ein Nationalspieler war. Etwas Zeit war zwar vergangen seit dem 21. August 1955, als die deutsche Fußballnationalmannschaft in Moskau erstmals gegen die UdSSR antrat und 2:3 verlor. Selbstredend war ihnen von Trainer Sepp Herberger eingeimpft worden, in der Öffentlichkeit zurückhaltend aufzutreten – zu frisch war noch die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, zu fragil das Verhältnis zum ehemaligen Kriegsgegner. Viele Nationalspieler, unter ihnen Kapitän Fritz Walter, hatten ja selbst gegen die Sowjets gekämpft. Eine heikle Mission also und hochpolitisch.

Röhrig begriff das, als eines Tages die Tür seines Lottogeschäfts aufging. Da stand eine ältere Dame mit Tränen in den Augen und gab Röhrig einen riesigen Blumenstrauß. Dann sagte sie: „Sie haben auch dazu beigetragen, dass mein Sohn nach Hause gekommen ist.“ Sie war davon überzeugt, dass die deutschen Fußballer in Moskau, als sie zum Zeichen der Versöhnung rote Rosen auf die Ränge des Dynamo-Stadions warfen, auch das Eis zwischen den beiden Regierungen brachen – und so dafür sorgten, dass ein paar Monate später die letzten 10 000 deutschen Kriegsgefangenen nach Hause durften. „Wir Fußballer sind die Eisbrecher von Adenauer gewesen“, wusste Röhrig später. Die Fußballer als Flankengeber für den kurz darauf folgenden berühmten Adenauer-Besuch im Kreml?

Nicht ganz. Die politischen Archive geben preis, dass Kremlchef Chruschtschow die Annäherung schon vor dem Länderspiel befohlen hatte. Selbst wenn die Walters, Eckels, Schäfers und Röhrigs nicht die bejubelte „Rückkehr der zehntausend“ einleiteten, so zeugt die rührende Geschichte doch davon, wie politisch aufgeladen dieses Spiel war. Es ist nicht das einzige Beispiel in der nun 100-jährigen Geschichte der deutschen Länderspiele.

Schon bevor am 5. April 1908 die Premiere in der Schweiz angepfiffen wurde, erkannten die Funktionäre des DFB in ihrem Sport ein politisches Instrument: In der internationalen Betätigung des Sports liege „ein außerordentlich wichtiges Moment zur Überbrückung politischer und nationaler Gegensätze“, befand DFB-Spitzenfunktionär Fritz Boxhammer schon 1907, „in diesem Sinn ist der Sport einer der erfolgreichsten Förderer der Friedensidee“. Als 1914 der „große Krieg“ ausbrach, wurde diese Idee pervertiert. Nun gab es DFB-Funktionäre, die den Stellungskrieg als „Riesen-Länderspiel“ verherrlichten.

Schwer zu sagen, wer wen mehr benutzte – die Politik den Fußball oder die Fußballfunktionäre die Politik, um ihren Sport zu popularisieren. 1920 etwa baten DFB-Funktionäre das Außenministerium um Zuschüsse, als es galt, den Boykott der ehemaligen Kriegsgegner mit dem Länderspiel in der Schweiz aufzubrechen. Politisch brisant war auch das erste Länderspiel gegen Frankreich, das erst 1931 zustande kam – im Nachgang zur „Verständigungspolitik“, mit der Außenminister Gustav Stresemann die Gräben zwischen den Erzfeinden wieder zuschütten wollte. Der Sport solle sich, erklärte Stresemann-Nachfolger Julius Curtius 1931, „in die Gefolgschaft des Auswärtigen Amtes“ begeben. Prompt forderte DFB-Präsident Felix Linnemann die Nationalspieler vor dem Spiel am 15. März 1931 in Paris auf, nicht allzu hoch zu gewinnen, damit die Völkerfreundschaft besser gelinge. Die Fußballer nahmen ihn beim Wort – und verloren per Eigentor mit 0:1.

Auch die Nazis wollten den Fußball für ihre Zwecke einspannen. Mit Schadenfreude sahen hingegen NS-Gegner, dass Deutschland im olympischen Turnier 1936 am Außenseiter Norwegen scheiterte, vor den Augen des „Führers“ – und die beiden Tore noch dazu ein Spieler mit dem jüdisch klingenden Namen Isaksen schoss. Als die Nationalelf 1942 in Berlin mit 2:3 gegen Schweden unterlag, unterbrochen von Bombensirenen, entschied Propagandaminister Joseph Goebbels, dass derlei Niederlagen nicht zur Motivation beitrügen.

Der Politik ist es immer schwergefallen, Länderspiele für ihre Zwecke zu benutzen. Zu wenig planbar und beherrschbar ist, was auf dem Feld und auf den Rängen passiert. Die Bundeskanzler Helmut Kohl, Gerhard Schröder oder Kanzlerin Angela Merkel sind zwar Stammgast bei wichtigen Länderspielen. Aber dahinter steckt nur die Hoffnung, die große Popularität der Nationalelf möge auf sie abfärben.

Letztmals Gegenstand heftiger Debatten wurde ein Spiel, das nie stattfand: die für den 20. April 1994 angesetzte Partie gegen England. Rechtsradikale Gruppen nutzten das damals noch heikle Datum – „Führers Geburtstag“ – für sich und drohten Aktionen an. Werner Hackmann, damals Hamburgs Innensenator, sagte schließlich ab, woraufhin der DFB Berlin als neuen Spielort festlegte. England zog zurück. Heute, da die Länderspiele mehr die kulturelle Befindlichkeit der Nation denn politische Prozesse widerspiegeln, wäre das wohl undenkbar.

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