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Das vergessene Desaster im Ibrox Park

Der folgenschwere Tribüneneinsturz von Glasgow – „Mutter aller Stadionkatastrophen“.

 

Plötzlich krachte es inmitten der brodelnden, kochenden Masse, und mit diesem Krachen kamen die Engel des Todes. Sechs Minuten war da gerade das Spiel des Jahres 1902 alt, das vor 70 000 Fußballfans im Glasgower Ibrox Park abgehalten wurde. 70 000 waren am 5. April in die Heimstätte der Rangers geströmt, um sich das ewig junge Duell Schottland – England anzuschauen. Seit der Premiere anno 1872 traten diese Teams nun schon zum 27. Mal gegeneinander an, und wie gewohnt sollte diese Partie zum krönenden Abschluss des traditionell im Frühjahr abgehaltenen Vierländerkampfes zwischen Irland, Wales, England und Schottland geraten. Und dieser Match elektrisierte die Zuschauer sogar noch mehr als alle Matches zuvor. Zum ersten Mal nämlich traten ausschließlich Professionals gegeneinander an, Spieler also, die wie die Zuschauer vorwiegend dem Proletariat entstammten.

Die schottischen Anhänger galten damals als das fanatischste Publikum der Welt. Nirgendwo gingen mehr Fans zum Fußball als in Schottland, nirgendwo waren sie impulsiver, lauter, weniger zu kontrollieren. Und an diesem Samstag im April 1902 feuerten die bedrohlichsten von ihnen ihre Lieblinge auf dem neu erbauten West Stand hinter dem Tor an. Ein dunkler Pulk von 33 000 Leuten stand auf dieser Tribüne aus Holz, dicht gedrängt, auf exakt 96 Reihen, die jeweils einen Höhenunterschied von 10 Zentimetern aufwiesen. Es war eng, so eng, dass die etwa 15 Ordner schon vor Anpfiff nur mit größter Mühe eine einsetzende Panik auf dieser Tribüne verhindern konnten. Natürlich existierte damals noch kein Kartensystem, von speziellen Platzkarten ganz zu schweigen.

Waren die Ränge ihrer Ansicht nach voll, hielten die wenigen Stewards ein großes Schild mit der Aufschrift „Full“ in die Luft. Der West Stand war überfüllt, keine Frage. Nie, berichtete der „Scotsman“ in der Montagsausgabe, nie war dieser Teil des Stadions voller gewesen. Und nie wogte diese Masse stärker hin und her. Gerade startete die schottische Mannschaft einen vielversprechenden Angriff, da kam noch mehr Bewegung in diese Masse. Und dann krachte es.

Ziemlich weit oben. Es soll noch, das behauptete jedenfalls ein Augenzeuge später, ein geradezu gespenstischer Moment vergangen sein, bevor ein Teil der Holztribüne einstürzte. Innerhalb von Sekundenbruchteilen barsten zahlreiche Bretter, es öffnete sich ein Schlund von etwa zehn mal vier Metern, und wie durch eine Falltür stürzte die Menge in die Tiefe. Aus 15 Metern fielen etwa 200 bis 300 Zuschauer zu Boden, nach den Verletzungen zu urteilen, viele von ihnen mit dem Kopf zuerst. Und über ihnen, denen kaum zu helfen war, entstand eine Panik, deren die Ordner nun nicht mehr Herr werden konnten. Alles drängte auf den Rasen. Die Bilanz: 25 Tote und weit über 500 Verletzte.

An insgesamt 17 Verbindungsstellen hatte das Holz nachgegeben, vermerkte hinterher ein Bericht, außerdem soll das verwandte Holz von extrem schlechter Qualität gewesen sein. Wer aber auf alten Photographien dieses grausame Loch entdeckt und die umliegende, noch unversehrte Holzkonstruktion vernimmt, der erkennt die mangelnde Statik und das Provisorium dieser offenbar in aller Eile zusammengezimmerten Traverse des Todes. Die Architekten des frühen Stadionbaus hatten die enorme Wucht unterschätzt, mit der das Publikum ihrem neuen Volkssport zujubeln würde. Eine tragische Fehlkalkulation, die 25 Männern unterschiedlichen Alters das Leben kosten sollte.

Es war nicht das erste Mal, dass die Situation in einem Fußballstadion gefährlich eskalierte. Bereits 1896 war in Blackburn ein Teil einer Tribüne eingestürzt und hatte fünf Menschen verletzt, kurze Zeit später in Newcastle verlor ein Jugendlicher seinen Fuß. Das Desaster von Glasgow aber ist ohne Zweifel die Mutter aller Zuschauerkatastrophen im Fußball, und dennoch ist es weitgehend in Vergessenheit geraten. Nicht einmal der berühmte und umstrittene Taylor-Report aus dem Jahre 1989 hat diese traurige Premiere aufgeführt. Insgesamt acht historische Stadion-Paniken mit tödlichem Ausgang zählt dieser Bericht, der den Tod von 95 Liverpool-Fans am FA-Cup-Halbfinal in Sheffield zwischen Liverpool und Nottingham Forest nicht wirklich aufklären konnte.

Auch viele Vorgänge 1902 in Glasgow sind völlig unklar geblieben. Überliefert ist jedoch, dass die Partie nach nur 20 Minuten Unterbrechung, nachdem die Toten und Verletzten halbwegs abtransportiert worden waren, weiterging. „Nicht einmal das Schreien der Menschen, die mit dem Tode rangen, nicht einmal der schreckliche Anblick von Hunderten gebrochenen Beinen und Armen konnte das rasende und verrückte Publikum dazu verleiten, den Blick von ihrem geliebten Sport abzuwenden“, beschrieb ein entgeisterter Beobachter hinterher diese bizarre Situation. In Wahrheit hatten die meisten Zuschauer und Spieler nicht bemerkt, dass Todesopfer und viele Schwerverletzte zu beklagen waren.

So entschieden die Offiziellen auf Weiterspielen. In der zweiten Halbzeit, als die Spieler um den Ernst der Lage wussten, liefen sie nur noch paralysiert über den Platz. Ein Zeitzeuge beschrieb dieses seltsame Geschehen als „mechanische Scharade“. Ein Rätsel auch für alle, die nicht dabei gewesen waren. Die Partie vom 5. April 1902 endete 1:1. Angesichts der schrecklichen Umstände rangen sich die beiden Verbände hinterher dazu durch, dieses Remis nicht in die Statistiken aufzunehmen. Bereits für den 3. Mai 1902 wurde eine Partie in Birmingham angesetzt, und die Einnahmen dieses Matches, der 2:2 endete, kamen ausschließlich den Opfern der Katastrophe von Glasgow zugute. Über die Atmosphäre dieser Partie existieren kaum Nachrichten. Es dürfte die Atmosphäre eines Geisterspiels gewesen sein.

Erschienen am 20. April 2002 in der Neuen Zürcher Zeitung

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