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Doping – eine Idee aus Westdeutschland

Nicht die sowjetischen Sportler, sondern Ruderer aus Rüsselsheim nutzten zuerst Testosteron – zur Potenzsteigerung.

HAMBURG. Ein schlechtes Gewissen plagte den Sportarzt keineswegs. Trotz der Affäre. Deshalb berichtete Dr. Martin Brustmann einem Kollegen freimütig, er habe den deutschen Kandidaten für die olympischen Ruderwettkämpfe 1952 in Helsinki das Testosteron-Präparat Testoviron „zur Erprobung im Training aushändigen“ wollen. So wäre schon vor sechzig Jahren beinahe ein Testosteron-Programm im deutschen Sport aufgelegt worden. Im Westen wohlgemerkt – ein Jahrzehnt bevor der DDR-Leistungssport begann, anabole Steroide systematisch einzusetzen. Verhindert wurde das nicht durch ethische Bedenken, sondern durch einen schlechten Verlierer: Georg von Opel. Der Automobilunternehmer, der später Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) wurde, hatte nämlich dem Doktor öffentlich „negatives Doping“ vorgeworfen und so bei den deutschen Meisterschaften Ende Juni 1952 für einen Skandal gesorgt. Brustmann habe den Achter der Rudergemeinschaft Flörsheim/Rüsselsheim, zu dem auch der ehrgeizige Sportler von Opel zählte, ein „Arzneimittel mit leistungsmindernder Wirkung“ verabreicht – nur deshalb wäre das Finale, das über das Olympiaticket für Helsinki entschied, gegen das Kölner Boot verloren worden.

Brustmann bestritt das. Schon ein paar Tage später berichtete er dem Präsidenten des Deutschen Ruderverbandes (DRV), Walter Wülfing: „Es war ein Präparat, das ich selbst hergestellt habe. (…) Ich habe Testoviron genommen und das mit einem Überzug versehen.“ An der Suspendierung Brustmanns, der als Ruderarzt für Helsinki vorgesehen war, änderte das nichts mehr. Überhaupt endete damit die bewegte Karriere Brustmanns (1885- 1964). Als Pionier der Sportmedizin wird er gefeiert, weil er bei den Olympischen Zwischenspielen 1906 in Athen an Sportherzuntersuchungen beteiligt war. Dass er einer der populärsten Sportärzte der Weimarer Republik war und im Dritten Reich als Leibarzt des gefürchteten SD-Chefs Reinhard Heydrich wirkte und zum SS-Standartenführer befördert wurde, ist weniger geläufig.

Bekannt ist in der historischen Dopingforschung, dass der Ruder-Skandal im Frühjahr 1953 zu den ersten, sehr rigiden Anti-Doping-Richtlinien des Deutschen Sportbundes (DSB) führte. Völlig unklar aber war bisher, wem und in welchen Dosen das Testosteron damals verabreicht wurde, und auf welcher wissenschaftlichen Basis. Nun erst lässt sich diese Vorgeschichte präzise rekonstruieren. Denn in dem Nachlass, den der 1964 gestorbene Sportmediziner hinterließ und der erst jetzt aufgetaucht ist, sind alle Details penibel notiert. Auftakt war demzufolge eine Niederlage des Rüsselsheimer Achters drei Wochen vor den deutschen Meisterschaften. Danach wandten sich von Opel und Trainer Fritz Brumme an den Sportarzt und teilten ihm mit, „dass drei verheiratete Männer ihres Achters ihre ehelichen Verpflichtungen über ihre Trainingsverpflichtungen stellten, und dass sie darauf die ungenügende Form ihres Achters zurückführten“. Abstinenz und sexuelle Enthaltsamkeit zählten damals zur Methodik in der Trainings- und Wettkampfphase.

Das Olympiaticket, das von Opel antrieb, war jedenfalls deshalb in Gefahr. Daraufhin versprach Brustmann Mixturen, die man heute als Nahrungsergänzungsmittel einstufen würde, und „erwog auch die Zufuhr von männlichem Hormon, das ich in Form von Testostrat (Tierhodenextrakt) und Testoviron von den entsprechenden Firmen anforderte“. Zunächst verabreichte er lediglich Testostrat-Tabletten an die Rüsselsheimer Ruderer. Acht Tage vor der Meisterschaft injizierte er dann erstmals Testoviron, das er inzwischen von der Firma Schering erhalten hatte – an einen Vierer-Ruderer des DRC Hannover, „da ich nun mittlerweile gute Wirkungen bei Erschöpfungen auf den Leistungswillen und die Arbeitslust gesehen hatte“. Gegenüber einem Kollegen von der Sporthochschule Köln, der ihn des Dopings bezichtigt hatte, rechtfertigte Brustmann die Hormongaben später mit der „Erhaltung der Ehefähigkeit trainierender verheirateter Sportsleute“.

Die Rüsselsheimer Ruderer lehnten die Injektionen jedoch zunächst ab und verlangten das Testoviron erst kurz vor dem Finalrennen, nachdem der Hannoveraner Vierer sensationell gesiegt und das Olympiaticket gesichert hatte. Brustmann verabreichte nun Testoviron-Tabletten mit dem Wissen, dass es kurzfristig nicht wirkte – und musste nach der Niederlage als Sündenbock herhalten. Den Einsatz des Testosterons rechtfertigte Brustmann später mit eigenen Forschungen; er selbst habe damit schon seit 1935 experimentiert und keinerlei Schädigungen festgestellt. Weiterhin berief er sich auf Studien des Psychologen Heinrich Düker, der 1943 (im Auftrag Scherings) und 1949 über Versuche mit Testoviron berichtet hatte. Demnach steigerte Testoviron, in geringen Dosen über mehrere Wochen hinweg verabreicht, die geistige Leistungsfähigkeit und auch „die Leistungsfähigkeit schlechthin“, und es behob auch Erschöpfungszustände. Logisch, dass solche Resultate einen Sportarzt elektrisierten.

Die meisten Details des Skandals blieben intern. Warum Ruderpräsident Wülfing den Testoviron-Fall des Hannoveraner Ruderers, der in Helsinki startete, nicht verhandelte, war Brustmann bewusst – Wülfing gehörte dem gleichen Klub an. Dass der Sportarzt Monate später freigesprochen wurde vom Rudergericht, nutzte ihm wenig, denn Schadensersatz gab es nicht. Da er aber alles aufzeichnete, räumen seine Protokolle und Dokumente nun, sechzig Jahre später, mit einem Mythos der Dopinggeschichte auf: Die These, wonach zunächst 1952/54 die sowjetischen Sportler Testosteron benutzten, daraufhin – als Reaktion – die amerikanischen Athleten und in den 1960er Jahren auch die ersten europäischen Leistungssportler, ist nicht länger haltbar. Der planmäßige Einsatz von Hormonen im Leistungssport begann 1952 im bundesdeutschen Rudern. Spätestens.

Erschienen am 6. November 2012 in der FAZ.

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