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Der Wettkampf seines Lebens

Am 20. Oktober 1964 schrieb Willi Holdorf Sportgeschichte. Als erster deutscher Zehnkämpfer gewann der Schleswig-Holsteiner Gold bei den Olympischen Spielen in Tokio.

 

Kiel. Sie war kurz, die Nacht vor dem Wettkampf seines Lebens. Und tränenreich. „Ich konnte nicht schlafen“, erinnert sich Willi Holdorf. Zu viele Gedanken schossen ihm durch den Kopf, als er im olympischen Dorf von Tokio 1964 angekommen war. Also ging er ins Zimmer von Wolfgang Reinhardt, der im Stabhochsprung überraschend Silber gewonnen hatte. Der Freund aus seinem Leverkusener Klub schlief selig, und Holdorf stand ergriffen da. „Ich habe geweint vor Freude, weil er die Medaille gewonnen hatte. Ich habe ihn umarmt“, sagt Holdorf. „Aber er hat einfach weitergeschlafen.“

Sie war kurz, die Feier nach dem Wettkampf seines Lebens. Und tränenarm. Als Holdorf am 20. Oktober 1964 im abschließenden 1500m-Lauf ins Ziel getorkelt war und erschöpft auf dem Boden lag, war er der erste deutsche Zehnkampf-Olympiasieger. „Augenblicke größter Leere“ seien das gewesen, berichtete er später. Als er wieder bei Sinnen war, schaute er zu seinem Trainer Friedel Schirmer. Der lachte und jubelte. „Da dachte ich, dass ich wohl nicht verloren habe.“ Nach der Siegerehrung gingen sie in ein Restaurant. „Das war’s.“ Aber schlafen konnte er nun wunderbar.

Heute, 50 Jahre später, wird er gefeiert als Heros der Leichtathletik. Er veranstaltet an diesem Sonntag eine rauschende Party in der Kieler Sparkassenarena, viel Prominenz wird erwartet, er hat in den letzten Interviews in Serie gegeben. Ein Buch mit dem Titel „Da steht die Welt still!“ (Knut Teske, Arete-Verlag) über seinen großen Moment von Tokio ist just erschienen. Heute wirkt sein Olympiasieg irgendwie zwangsläufig. Wie programmiert. Holdorf wehrt ab. „Ich bin ja durch puren Zufall zur Leichtathletik gekommen.“

Geboren am 17. Februar 1940, war Holdorf in Blomesche Wildnis aufgewachsen, direkt unter dem Elbdeich. Er spielte Fußball beim ETSV Glückstadt, stand beim MTV Herzhorn im Handballtor, als er eine Lehre als Elektriker machte und dort ein Praktikant meinte: „He, am Wochenende ist in Itzehoe die Bezirksmeisterschaft in der Leichtathletik, komm doch einfach mit.“ Warum nicht, dachte Holdorf. „In der Schule war ich ja immer der schnellste.“

Die 100 Meter sprintete er auf Anhieb in 11,2 Sekunden. „Da bekommt man Appetit“, sagt er. Er begann mit dem Training. Als sie im Winter durch die Marsch liefen, riefen die Leute: „Was seid Ihr für Idioten!“ Jogger gab es damals nicht. Beirren ließ sich Holdorf dadurch nicht. Er wurde Landesmeister über 80 Meter in der Halle, probierte auch mal Diskus und Hochsprung.

Und irgendwann, während einer Bahnfahrt nach Hamburg, studierte er die Junioren-Bestenlisten im Zehnkampf. „Da habe ich gesehen, das kann ich auch schaffen. Das sind alles Leistungen, die ich auch schaffen kann.“ Er trainierte teilweise unter abenteuerlichen Bedingungen. Einmal bohrte sich ein Speer durch seinen Arm, den er als Latte im Stabhochsprung benutzt hatte. Aber es dauerte nicht lange, da war er westdeutscher Juniorenmeister. „Da wurde mein Appetit noch größer.“

Die nächste sportliche Zäsur, der Umzug 1960 nach Leverkusen, war ebenfalls nicht von langer Hand geplant. Der 800m-Läufer Dieter Eisenmann, sein Freund, trainierte nach Plänen des Leverkusener Coaches Bert Sumser. Holdorf lernte den großen Trainer kennen, als er mit Eisenmann auf dem Weg in den Urlaub nach Frankreich war. Ende 1960, Holdorf war knapp an der Qualifikation für die Olympischen Spiele in Rom gescheitert, wechselte er zu Sumser und begann in Köln ein Sportstudium.

In der Folge steigerte er seinen Punktzahlen im Zehnkampf nahezu linear. Zweimal 1961 und 1963, wurde er Deutscher Meister. Als DM-Dritter von 1964 schaffte er den Sprung zur deutsch-deutschen Ausscheidung in Jena – in Tokio startete zum letzten Mal eine gesamtdeutsche Mannschaft. In die DDR fuhren sie mit einem mulmigen Gefühl. „Wir haben uns damals Essen mitgenommen. Wir haben geglaubt, dass wir sonst vergiftet werden, weil kurz vorher deutsche Ruderer in der Tschechoslowakei mit Abführmitteln aus dem Verkehr gezogen worden waren“, erzählt Holdorf. „Dafür haben wir uns später alle sehr geschämt. Die Leute dort haben uns Sportler viel mehr angefeuert als ihre eigenen. Das war unglaublich. Das war der schönste Wettkampf meines Lebens.“

Als Zweiter dieser Qualifikation holte er sich das Ticket für Tokio. Er war dabei, von Gold war nicht die Rede. „Ich wusste, ich habe eine Chance auf eine Medaille“, erinnert er sich. „Aber der Druck war noch nicht so groß. Wir wussten nicht, was in Deutschland in den Zeitungen stand, die Filme mussten ja erst rüber geflogen werden. Das war anders als 1984, als Jürgen Hingsen vor seinem Speerwurf wusste, ein Ding, und ich brauche nie wieder zu arbeiten.“

Der Wettkampf am Morgen nach den Tränen begann zäh. Erst als er im Hochsprung, seiner schwächsten Disziplin, Bestleistung sprang (1,84m) und die Konkurrenz patzte, stiegen seine Chancen. Und als er im Stabhochsprung die vier Meter im dritten Versuch übersprang, mit dem neu entwickelten Glasfiberstab, da schien alles möglich. Der Favorit aus Taiwan, Weltrekordler Kang, war abgeschlagen. Im 1500m-Meter-Lauf ging es nur noch um Holdorf und den Letten Rein Aun, der 18 Sekunden hinter ihm lag. Holdorf dachte, es seien nur 14 Sekunden, das hatte ihm der Trainer gesagt, und er rannte um sein Leben.

Holdorfs Fähigkeit, sich in diesem Moment völlig zu verausgaben, ist laut Teske ein typisches Merkmal der Nachkriegskinder wie Holdorf, der auf einem Bauernhof ohne Vater aufgewachsen war, der in Russland gefallen war. In karger Umgebung habe diese Generation nahezu unmenschliche Kraftanstrengungen geleistet. Holdorf schüttelt den Kopf. Es sei doch selbstverständlich, sich im Kampf um Gold zusammenzureißen, sagt er. Er habe eher an seinen Sohn gedacht, der damals ein Jahr alt war. Dem wollte er später nie erklären müssen: „Dein Papa war zu schwach, um Olympiasieger zu werden.“

In der Heimat hisste sein Grundschullehrer, als er vom Gold erfuhr, drei Tage lang die deutsche und schleswig-holsteinische Fahne. Als die großen Feiern hinter ihm lagen, beendete Holdorf seine Karriere als Zehnkämpfer. Er war erst 24 Jahre alt. Danach war er Zehnkampf-Trainer, Europameister als Anschieber im Zweierbob, Trainer bei Fortuna Köln in der Fußball-Bundesliga (1974), und als Gesellschafter des THW Kiel trug er zum Aufstieg des „Zebras“ zu einem der besten Handballklubs in Europa bei.

Sein Geld verdiente er derweil als Adidas-Repräsentant. Er muss, wenn er an Tokio denkt, selbst darüber lächeln. Denn bevor er auf das Siegespodest stieg, hatte er die Schuhe ausgezogen, die ihm das Unternehmen aus Herzogenaurach zur Verfügung gestellt hatte. Die Goldmedaille nahm er barfuß entgegen. Aber das war nur eine Randnotiz nach dem Wettkampf seines Lebens.

Erschienen am 19. Oktober 2014 in der Sonntagszeitung des SHZ.

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