Olympiasieger Joseph Barthel soll 1952 gedopt haben.
Berlin. Nach dem Spurt in die Sportgeschichte brach Joseph Barthel zusammen. „Haltlos rannten ihm die Tränen, als er auf einer Bank im Innenraum saß und auf die Siegeszeremonie wartete“, schrieb ein Augenzeuge über jene Minuten nach dem fesselnden 1500-Meter-Lauf bei den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki, als der 25 Jahre alte Luxemburger sein Glück nicht fassen konnte. Diese 3:45,2 Minuten bedeuteten nicht nur olympisches Gold. Sie erhoben Barthel, der 1992 starb, auch zu einem nationalen Mythos. Doch was ist, wenn Josy, der später Präsident des Leichtathletikverbandes und Sportminister in Luxemburg wurde, nach dem ein Stadion und Straßen benannt wurden, ein Betrüger war?
Zwar gab es damals noch keine Kontrollen, die ihn hätten überführen können, doch eine lange verschollene medizinische Dissertation fördert zutage, dass Barthel mit „stimulierenden Mitteln“ hantiert hat. Etwa mit dem Methamphetamin Pervitin, das deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg unter dem Pseudonym „Panzerschokolade“ gleichzeitig euphorisierte und ihnen über einen langen Zeitraum hinweg höchste Konzentration für ihre zerstörerischen Einsätze verschaffte.
Besagte Doktorarbeit, die den Titel „Die Wirkung von Dopingmitteln auf den Kreislauf und die körperliche Leistung“ trug, wurde in den Jahren 1952 bis 1954 an der Universität Freiburg von Oskar Wegener verfasst. Wegener war ein Insider: Der Mittelstreckler war von Holstein Kiel in den Breisgau gekommen, um sich bei dem berühmten Leichtathletik-Trainer Woldemar Gerschler auf die Spiele in Helsinki vorzubereiten – eine Mandelentzündung verhinderte dann allerdings seine Nominierung. Das Vorwort klärt über den Anlass auf:
„Weiterhin berichten der Trainer Gersch ler und der Sportarzt Dr. Prokop, dass selbst auf der Olympiade die Mannschaftsbetreuer einiger Länder mit geheimnisvollen Mittelchen angereist kamen, die sie dann ihren Schützlingen vor dem Start eingaben. (…) Denn nach einem Sieg wird man sich hüten, den Gebrauch irgendwelcher stimulierender Mittel zuzugeben. Andererseits waren sie nicht für alle Sportler gleich bekömmlich, so dass einige nicht ihre gewohnte Form fanden. So wurden einem Leichtathleten, wie Trainer Gerschler berichtete, auf der Londoner Olympiade (1948, d. Red.) nach der Gabe eines solchen Mittels so schlecht, dass er Mühe hatte, die Kämpfe auf seiner Laufstrecke zu überstehen. Vier Jahre später errang er nach gründlicher körperlicher Vorbereitung die Goldmedaille.“
Über 50 Jahre später bestätigt Oskar Wegener, ein mittlerweile pensionierter Radiologe, dass es sich bei diesem Mann um Joseph Barthel handelte, den sensationellsten aller Leichtathletik-Olympiasieger von 1952: „Das ist der Luxemburger gewesen, der Mittelstreckler.“ Glaubwürdig ist diese Aussage allemal. Denn Barthel, dem französische Trainer zuvor jedes Talent abgesprochen hatten und der in der Weltrangliste des Jahres 1951 lediglich an 41. Stelle platziert war, wurde seinerzeit von Wegeners Trainer gecoacht: von Woldemar Gerschler. Der deutsche Trainer wurde nach Helsinki von deutschen Medien als „Verräter“ verunglimpft, da Barthel mit dem deutschen Topfavoriten und Weltrekordler Werner Lueg die größte Goldhoffnung übersprintet hatte. In Helsinki gewann Deutschland keine Goldmedaille.
Was Wegener in seiner Arbeit in Versuchsreihen mit Leichtathleten, Ruderern und auch an sich selbst mit den damals häufigsten Dopingpräparaten „Coffein, Pervitin, Strychnin und Veriazol“ herausfand, musste die Fantasien jedes Leistungssportlers beflügeln. „Die stärkste und anhaltendste Wirkung“ unter den vier untersuchten Dopingmitteln, analysierte Wegener, „hat das Pervitin. Es vertreibt jedes Müdigkeitsgefühl und durch seine euphorische Komponente das Startfieber, da hier der Drang zum Sieg, der Überlegene zu sein, jedes Bedenken überwiegt.“ Aber auch die Physis, das Treten auf dem Ergometer, „fiel leichter, weil sich in den arbeitenden Beinen ein Gefühl der Erleichterung ausbreitete, das die höhere Leistung ohne größere Willensanstrengung ermöglichte“. Dass Pervitin abhängig machen konnte, übersah der Wissenschaftler Wegener dabei nicht.
Während die Doktorarbeit entstand, tobte in der jungen Bundesrepublik bereits eine heftige Dopingdebatte. Anlass war der Skandal rund um die deutschen Rudermeisterschaften 1952, bei denen der berühmte Sportarzt Martin Brustmann, der später aufgrund der Vorfälle suspendiert wurde, zwei Achter-Spitzenteams verschiedene Dopingmittel verabreicht hatte – dem siegreichen Kölner Achter „rote Pillen“ (sprich Pervitin) und dem Flörsheimer Achter das Hormon Testoviron. Dieser Skandal zog die erste deutsche Anti-Doping-Konvention nach sich: Der Deutsche Sportbund schloss sich im April 1953 ohne Einschränkung der Erklärung des Deutschen Sportärztebundes an, nach der „jedes Medikament – ob es wirksam ist oder nicht – mit der Absicht der Leistungssteigerung vor Wettkämpfen gegeben als Doping zu betrachten ist“.
Unter dem Einfluss der Ergebnisse der Dissertation Wegeners müssen auch die beiden aufsehenerregenden Weltrekorde des legendären Leichtathleten Rudolf Harbig aus dem Jahre 1939 stark in Frage gestellt werden. Harbig wurde von Woldemar Gerschler trainiert.
Erschienen am 26. November 2006 im Tagesspiegel.