Was für eine Lebensgeschichte: Matthias Steiner wurde vom österreichischen Gewichtheberverband verstoßen, zog zu seiner damaligen Freundin nach Sachsen – die bei einem tragischen Autounfall starb. Jetzt trat der 25-Jährige für Deutschland bei Olympia an. Und holte die Goldmedaille.
Als Matthias Steiner zum letzten Mal die Bühne betritt, verwandeln sich 145,9 Kilogramm in pure Energie. Der Superschwergewichtler blickt zornig auf die Hanteln, die vor ihm liegen, er läuft auf und ab, während er auf die verdammten 258 Kilogramm schaut. Er brüllt die Gewichte kurz an, dann geht er seinem Feind an die Gurgel. Die Hände, die er zuvor mit Kreide eingerieben hat, um nicht von der Stange abzugleiten, greifen entschlossen zu.
Inzwischen ist der Saal, der eben noch tobte, fast verstummt, 6000 Menschen schauen gebannt auf das Schauspiel. Steiner schnauft, während die Zeit unerbittlich herunterläuft. Das Display bleibt bei 15 Sekunden stehen, als Steiner seinen letzten Stoß beginnt. Er reißt die Hantel hoch, schwer schnaufend, dann federt die Stange plötzlich auf seinen Schultern, der erste Jubel schwillt an. Drei Sekunden später geht er blitzartig in den Ausfallschritt, der Körper schnellt nach unten, um das Gewicht mit gestreckten Armen aufzuhalten – und es gelingt. Die Wangen beben, die Augen glühen, die Arme brennen, aber Steiner steht das Gewicht. Als die Hantel herunterfällt, fegt ein Orkan des Jubels durch die Halle. Steiner ist Olympiasieger. Hier steht er, der stärkste Mann der Welt.
Doch das eigentliche Schauspiel beginnt erst jetzt. Steiner reißt die Arme hoch, und dann streift er die Schulterpartie seines äußeren Anzugs herunter. Er zeigt den Bundesadler. Das deutsche Emblem. Ich habe für Deutschland gewonnen, heißt diese Geste. Der 25-Jährige ist in Wien geboren, in Österreich aufgewachsen, aber seit knapp einem Jahr stemmt er die Gewichte für den Bundesverband Deutscher Gewichtheber. Grund war ein Streit mit den österreichischen Funktionären. Sie trauten ihm keine großen Leistungen zu, sie unterstützten ihn nicht, so empfand es jedenfalls Steiner.
Als sein Heimtrainer nicht mit zur Europameisterschaft fahren durfte, eskalierte der Streit: Steiner gelang kein gültiger Versuch, und die Funktionäre beschuldigten ihn, dies absichtlich gemacht zu haben. „Der kann meinetwegen für Schweden, Deutschland, Kasachstan oder Teppichland antreten“, sagte ein Funktionär. Aber Steiner wollte nicht nach Teppichland. Irgendwann saß Steiner vor Frank Mantek, dem Bundestrainer des deutschen Gewichtheberverbandes. „Ich will für Deutschland starten“, sagte Steiner, und Mantek sagte zu. Es dauerte allerdings drei Jahre, bis er die Staatsbürgerschaft bekam. Rechtzeitig genug für den Olympia-Siebten von Athen, um in Peking für Deutschland zu gewinnen.
Als dieser dritte Versuch im Stoßen erfolgreich geschultert war, als er mit 461 Kilogramm Gesamtgewicht den Russen Jewgeni Tschigischew nach zehrendem Nervenspiel noch um einen Kilogramm übertroffen hatte, brachen die Gefühle heraus. Steiner brüllte zuerst seine Freude heraus, dann sprang Mantek dem neuen Olympiasieger in die Arme. Und plötzlich schossen dem Superschwergewichtler die Tränen in die Augen. Er entschuldigte sich dafür mit Gesten beim tobenden Publikum, aber die Tränen flossen weiter.
Als er schließlich zur Siegerehrung schritt, wedelte er wild seinem Bundestrainer zu, bis dieser endlich begriff. Bis Mantek seinem Schützling das Foto brachte, das Steiner immer mit sich trägt. Dieses Bild seiner Frau Susann drückte er fest an sich, und er zeigte es allen Fotografen, als sie die drei Medaillengewinner im Bild festhielten.
Auch diese Frau hatte Steiner nach Deutschland gezogen: Er hatte seine Liebe in Zwickau gefunden, er heiratete seine deutsche Freundin, da lag es für ihn nahe, für Deutschland zu starten. Aber seine Ehefrau sollte es nicht erleben, ihn in den deutschen Farben zu sehen. Sie starb vor einem Jahr, bei einem Autounfall. Steiner trauerte um seine Ehefrau. Dann beschloss er, für sie in Peking eine Medaille zu gewinnen. Aus diesem Medaillentraum wurde nun Gold. „Ich widme Susann meine Medaillen“, hatte er angekündigt. Nun sagte er: „Ich habe dieses Gold für sie, die Familie und meine Freunde gewonnen.“
Und dann bedankte er sich noch bei den vielen Helfern, welche diese Goldmedaille mitverdienten, aber unsichtbar bleiben: das Heer der Dopingkontrolleure. „Ich bin stolz auf das System, das wir in Deutschland haben“, sagte Steiner, und dass er sich freue, dass nun auch in anderen Ländern systematisch gefahndet werde. Erst im Juni waren im bulgarischen Gewichtheberverband, einer Hochburg dieses Sports, elf Sünder ertappt worden. Bulgarien zog daraufhin alle Nennungen für Peking zurück.
Im Frühjahr dieses Jahres wurden 11 von 14 griechischen Kraftsportlern erwischt. Steiner sagte damals: „Es müsste im Sport so sein, dass bei Dopingfällen der Betreuerstab suspendiert wird.“ Nun, in Peking, profitierte Steiner auch davon, dass der chronisch verdächtigte iranische Olympiasieger von 2000 und 2004, Hossein Rezazadeh, zurückgetreten ist. „Ich hätte sonst 470 Kilogramm heben müssen, das schaffe ich einfach nicht“, bekannte Steiner. „Es war noch nie so leicht, Olympiasieger zu werden.“ Das deutsche Gewichtheben hat einen neuen, charakterstarken Repräsentanten.
Erschienen bei SPIEGEL Online am 19. August 2008.