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Der Unerschrockene

Als Bundestrainer hat der Isländer Dagur Sigurdsson aus einer desolaten deutschen Nationalmannschaft den Europameister geformt – und einen Olympiafavoriten. Zeit für einen Heimatbesuch.

 

Der Weg zum wichtigsten Mann des deutschen Handballs führt, von Reykjavík aus, vorbei an Ortschaften wie Mosfellsbær, Borgarnes, Bifröst und Búdardalur, durch den Tunnel Hvalfjardargöng, über die sich dahinziehende Landstraße Vestfjardarvegur, an vereinzelten Häusern und erhabenen Bergketten entlang, es geht durch Spitzkehren und über Schotterstraßen, und nach mehr als fünf Stunden Autofahrt ist man endlich da, am Arsch der Heide oder auch: am Ziel.

Vor einer Hütte steht ein Mann in Holzfällerhemd und mit Farbe bekleckster Hose. Man sieht ihn von Weitem. Er winkt und lächelt.

Dagur Sigurdsson verbringt von Berufs wegen viel Zeit in Hallen, in denen es nach Schweiß und Stress riecht. Er runzelt dann die Stirn, reißt den Mund auf und redet in den Spielpausen lautstark auf seine Mannschaft ein. Hier dagegen wiegen das hohe Weidegras und die Mähnen der Ponys im Wind, der Blick geht hinaus über den weiten Fjord, die Natur ist groß und der Mensch klein. Das nächste Dorf liegt zehn Kilometer entfernt.

Vor gut einem halben Jahr hat er dieses Stück Wildnis im Norden Islands entdeckt und gekauft, die Eltern seiner Frau Ingibjörg leben in der Nähe. „Zwei Fjorde weiter“, sagt sie. Das Land der Sigurdssons umfasst 1000 Hektar und drei Kilometer Strand. Und drauf steht nichts weiter als diese Holzhütte ohne Stromanschluss. Ein Raum mit Doppelbett, Spüle, Campingkocher, tropfendem Wasserhahn, Regal in der Ecke, an dem eine Gitarre lehnt. Viel mehr gibt es nicht.

„Wir wollten das so haben“, sagt Sigurdsson, streckt sich im Sessel aus und schaut aus dem Fenster. „So einfach wie möglich.“

Es ist Mitte Juni, zwei Wochen bevor er die deutsche Handballmannschaft zusammenziehen wird, bevor sein Dasein wieder auf eine Sache ausgerichtet sein wird, diesmal Olympia, Rio de Janeiro, wenn also das Leben in der Sporthalle wieder beginnt. Sigurdsson lebt die meiste Zeit in Berlin. Jetzt ist er für eine Woche hierhergereist, um gemeinsam mit Ingibjörg Hand ans Haus zu legen, Fensterrahmen zu streichen, die Dielen der Terrasse abzuschleifen und ins eisige Atlantikwasser zu springen. „Es macht Spaß“, sagt er. „Und es härtet uns ab.“

Trotzdem klappt er jeden Tag den Laptop auf, um Daten zu checken und nachzuprüfen, wie sich seine Nationalspieler fit halten. Andreas Wolff etwa, der Torwart. „Der Wolff ist gestern elf Kilometer gelaufen“, sagt Sigurdsson und schmunzelt. Was er damit meint: Täuscht euch nicht, auch von der entlegensten Prärie aus behalte ich die Dinge im Blick.

Ende Januar hat Sigurdsson mit der Mannschaft ein Stück deutsche Sportgeschichte geschrieben, als sie überraschend den Europameistertitel gewannen und einen Freudentaumel auslösten. Eine Gemeinschaft junger, bis dato unbekannter Spieler, euphorisch bis zur Rauschhaftigkeit, vollbrachte etwas, was kaum jemand erwartet hatte – das war ihre Story. Bis zu 17 Millionen Menschen schauten das EM-Finale im deutschen Fernsehen, das Land entdeckte den Handball wieder.

Sigurdsson war Kopf und Seele dieses Erfolgs. Er hatte seinem Team eine Spielidee und viel Selbstvertrauen vermittelt. Und es vertraute dem Trainer. Was er ihnen gesagt habe, so erzählten es viele Spieler, hätten sie bedingungslos geglaubt. In Rio de Janeiro zählen sie jetzt zu den Favoriten auf Gold.

Als Sigurdsson die Mannschaft vor zwei Jahren übernahm, lag der deutsche Handball, was das Nationalteam betraf, am Boden. Nach dem Weltmeistertitel von 2007, errungen im eigenen Land, war es bergab gegangen. Die Ära von Meistertrainer Heiner Brand war quälend langsam und spät zu Ende gegangen, unter dem überforderten Nachfolger Martin Heuberger verpasste es die Auswahl, sich für Olympia, EM oder WM zu qualifizieren. Sigurdsson brachte neuen Schwung. In der Bundesliga hatte er bei den Füchsen Berlin erstklassige Arbeit geleistet, indem er die besten Spieler aus dem Vereinsnachwuchs geschickt mit einigen Routiniers kombinierte.

Allein schon die Berufung eines Typen wie Sigurdsson war ein Zeichen. Brand und Heuberger stammen aus Gummersbach und Schutterwald und blieben der Provinz treu. Der Isländer Sigurdsson dagegen hatte mit 23 Jahren seine Insel verlassen, um in der Bundesliga zu spielen, später ging er nach Japan, Österreich und wieder nach Deutschland, als Spieler, Spielertrainer und schließlich als Trainer. Zwischendurch kehrte er für zwei Jahre nach Reykjavík zurück, um bei seinem alten Sportklub die Geschäfte zu führen. Er hielt sein Leben in Bewegung, ohne dabei zu hetzen. Er nahm Gelegenheiten wahr.

„Ich habe keinen Masterplan“, sagt Sigurdsson, behaglich in seiner Hütte sitzend, ein Schmalzgebäck naschend. Sigurdsson ist, wie seine Frau auch, ein angenehmer, unaufgeregter Mensch. Worte, die er häufig verwendet, lauten: normal, probieren, mal gucken. Das klingt gewöhnlich für jemanden, der ein ungewöhnliches Leben führt, der auf seinem Weg durch die Welt einer der besten Handballtrainer dieser Welt geworden ist, über sich allerdings behauptet, „kein Handballfreak“ zu sein. Dem Ballwerfen nicht genug ist. Es nie war.

Nach drei Jahren als Spieler in der Bundesliga war er, ein Beispiel, von Wuppertal zu Wakunaga Hiroshima gewechselt. Da waren, einerseits, Knieprobleme, die ihn erkennen ließen, dass er den Belastungen des Spitzenhandballs nicht mehr würde standhalten können. Andererseits, sagt er, „war da die Neugierde“. Auf Japan. Mit damals zwei kleinen Kindern zogen die Sigurdssons hin. Schwierig? „Nee, würde ich nicht sagen. Wir haben uns dort sehr wohlgefühlt. Die Saison war viel kürzer. Wir konnten die Zeit nutzen, um zu reisen. Wir waren viel unterwegs in Asien.“

Ingibjörg: „Thailand, Malaysia.“

Dagur: „Bali.“

Viele Isländer zieht es in die Welt hinaus. „Das hier ist eine Insel im Atlantik, und im Winter ist es dunkel“, sagt er. „Da kommst du mit deinen Freunden auf die Idee: Lass uns mal woanders gucken. Da machst du schnell fünf, sechs Reisen im Jahr. Einfach um wegzukommen.“

„Und man kann auch länger von hier weggehen, ohne fürchten zu müssen, keinen Platz mehr zu kriegen, wenn man zurückkehrt“, sagt Ingibjörg. „Man kriegt immer Arbeit. Die Leute haben keine Angst, etwas auszuprobieren. Wenn etwas nicht funktioniert, macht man etwas anderes.“

Elf Jahre lang lebten sie außerhalb Islands, dann kamen sie wieder. Sigurdsson fing als Geschäftsführer bei Valur Reykjavík an. Er liebäugelte damit, in der Bundesliga eine Trainerkarriere zu starten, hatte jedoch wenig Lust, sich von Verein zu Verein hochzudienen, „ein Dorf nach dem anderen, mit drei Kindern. Wir hatten aber keinen Bock, oft umzuziehen“. Entweder sollte es ein Topklub sein oder einer aus einer Großstadt. Sonst würden sie bleiben.

Dann kam der Anruf aus Berlin.

Große Stadt, spannende Stadt. Die Füchse waren damals, 2009, keine Spitzenmannschaft, konnten es aber werden. Die Jugendarbeit war hervorragend, das Projekt bot eine Perspektive, wenn man etwas Geduld aufbringen wollte. Es war einen Versuch wert. Familie Sigurdsson zog um.

Die Geschäftsstelle der Füchse liegt am Gendarmenmarkt, mittenmang, totales Gegenprogramm zum isländischen Fjord. Bob Hanning tritt ins Zimmer, noch so ein Kontrapunkt. Wo Sigurdsson leise ist, ist Hanning laut. Dessen Energie und Gestaltungswille haben aus den Füchsen, einem Stadtteilverein, einen Hauptstadtklub geformt. Sigurdsson kann man nicht nicht mögen, den Berserker Hanning schon.

„Zwei extrem starke Persönlichkeiten treffen aufeinander.“ Sagt wer? Hanning.

Er ahnt Fragen, bevor man sie gestellt hat. Ein kurzer irritierter Blick auf seinen Kopf reicht aus, und er erzählt davon, dass er sich Haare vom Hinterkopf aufs Haupt habe transplantieren lassen. Und wie das ablief. Schwer, sich vorzustellen, wie Hanning und Sigurdsson – dem Haarwuchs und Frisur erkennbar schnuppe sind – miteinander klarkommen. Tun sie aber.

Bis heute ist das so geblieben, auch wenn Sigurdsson nicht mehr für die Füchse arbeitet. Dafür arbeitet Hanning inzwischen für den Deutschen Handballbund, den DHB. Seit September 2013 ist er dort, neben dem Füchse-Job, Vizepräsident, zuständig für den Leistungssport. Er fädelte es ein, dass Sigurdsson als Bundestrainer angeheuert hat.

„Die Zeit war reif. Wir brauchten etwas Neues, Unverbrauchtes, eine neue Gedankenwelt“, sagt Hanning. „Die alte Herangehensweise war: Sportschule, dreimal am Tag Training, drei Stunden Videostudium, Riesenstab an Ärzten und Physiotherapeuten. Die neue ist: Alle freuen sich auf die Nationalmannschaft, mehr Verantwortung für die Spieler, einmal Training, Verkleinerung des Umfeldes, rein in die Großstadt, in den Mainstream, schöne Hotels, auf junge Spieler setzen.“

Einmal, bei einem Trainingslager in Berlin, versammelte Sigurdsson die Mannschaft am späten Abend vor der zentral gelegenen Unterkunft und lief mit den Spielern im Dunkeln an Regierungsbauten und Botschaften vorbei, angeleitet von einem mitjoggenden Stadtführer. Ein anderes Mal stand Boxen auf dem Programm, in einem alten Gym prügelten die Spieler auf Ledersäcke ein und lernten Schlagtechniken. Hinterher gab es beim Grillabend frische Burger. „Konzentrierte Lockerheit“ zeichne Sigurdssons Art aus, eine Mannschaft zu führen, sagt Hanning. „Er ist unheimlich wissbegierig. Und er hat keine Angst.“

Die beiden Männer verbindet, dass sie begriffen haben, wie sehr Veränderung Kräfte freizusetzen vermag. Dass die neue Generation der Handballprofis einen anderen Zugang braucht als jene Haudegen von früher, denen der Muff der Sporthalle Luft genug war. Und dass Ziele hochgesteckt sein sollten. Angestrebt wird Gold, nicht unbedingt schon in Rio, spätestens aber 2020 in Tokio. „Ich möchte den Olympiasieg“, sagt Hanning. Sigurdsson will das auch. Er sagt das bloß nicht so laut.

„Eines ist jedenfalls klar“, meint Hanning, „Dagur wird nicht daran scheitern, dass er zu viel kommuniziert.“

Nationalspieler absolvieren fast 100 Partien in einer Saison – Bundesliga, Pokal und Europacup mit dem Verein, dazu Länderspiele und Trainingslehrgänge mit der DHB-Auswahl. Dabei wird dauernd etwas besprochen. Sigurdsson fasst sich lieber kurz. Er könne nicht ständig auf sie einreden, erklärt er, „weil die Informationen einfach durchgehen. Lieber weniger sagen. Die Jungs wissen dann, dass sie das ernst nehmen müssen“.

Sein Vertrag beim DHB läuft noch bis 2020, er ist, mit 43, ein noch eher junger Trainer, dessen Ehrgeiz ungestillt geblieben ist. Aber eines Tages würden Ingibjörg und er nach Island zurückkehren, sagt Sigurdsson, während er in der Hütte sitzt, Kaffeepott in der Hand, Farbkruste an den Fingern. „Wir haben das hier eigentlich für die Zukunft gekauft. Dann werden wir es genießen. Momentan ist es mehr Arbeit.“

Sigurdssons Eltern leben in Island, die Brüder auch, mit einem betreibt er einen Autoteilehandel. Und in der Nähe des Hafens von Reykjavík steht das Kex, eine ehemalige Keksfabrik, deren Geschichte viel erzählt über die Unerschrockenheit der Isländer. Und über Sigurdssons Kreativität.

2008, kurz nach Ausbruch der Finanzkrise, die den Inselstaat besonders hart erwischt hatte, entdeckte jemand aus seinem Freundeskreis das brachliegende Gebäude. Zusammen wollten sie daraus etwas Neues machen, etwas, bei dem sich Spaß, Geschäft und Leidenschaft verbanden. Zu überschaubaren Kosten, Geld gab es damals bei keiner Bank. Ein Hotel? Nicht zu finanzieren, die nötige Vollsanierung. Ein Hostel, mit Bar und Küche? Machbar.

Einer der Freunde, der in der Krise auf einmal viel Zeit hatte, bekam den Auftrag, nach gebrauchten Möbeln und Einrichtungsgegenständen zu suchen. Das Haus sollte einen rauen, warmen Charme bekommen. „Wir wollten diese Atmosphäre. Converse-Schuhe, Bob-Dylan-Platten, altes Gym“, erzählt Sigurdsson. Jetzt hängen Landkarten und Schwarz-Weiß-Bilder an den Wänden, in Vitrinen liegen Baseballhandschuhe neben uralten Rollschuhen, in Regalen lehnen Bücher an Büsten, Tischplatten liegen auf Nähmaschinengestellen. „Alles secondhand. Bis auf die Betten.“

Sigurdsson selbst fand in Berlin einen alten Lederboxsack. Einen Teil des Parketts staubte er bei seinem Jugendverein ab, der stammt aus der Sporthalle, Sigurdsson hatte noch auf diesem Bodenbelag Handball spielen gelernt. Außerdem wurde Holz von Europaletten zu Dielen verarbeitet. Materialkosten: „Null Euro.“

Es gibt Doppelzimmer mit eigenem WC, aber auch enge Schlafräume mit Etagenbetten und Gemeinschaftsbad auf dem Gang. Sigurdsson quartierte die Nationalmannschaft im Kex ein, als sie zwei Länderspiele in Reykjavík absolvierte. Komfort war tabu. Statt der besseren Zimmer teilte der Trainer seinen Spielern die spartanischen Schlafräume zu.

Gemeinsam mit Detlef Hacke. Erschienen am 30. Juli 2017 in Der SPIEGEL.

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