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Der letzte Straßenhandballer

Während der THW Kiel mit dem Trainingslager auf La Réunion neue Wege beschritt, war der Trip für Daniel Narcisse eine Reise in seine Vergangenheit. Das HM begleitete ihn bei der Spurensuche.

 

Willkommen sind die Fremden nicht. Misstrauische Blicke empfangen Daniel Narcisse, als er den Geländewagen am Straßenrand der Avenue Joseph Bédier in St. Denis parkt. Argwöhnisch beäugen ihn die vier Jugendlichen, auf schweren Steinbänken hockend. Dann steht der Anführer der Clique auf, nähert sich mit schleppendem Gang dem Luxusgefährt. Sein Handgelenk ziert ein billiges Imitat einer goldenen Uhr, die Augen glasig, nüchtern ist er nicht, obwohl der Tag noch nicht alt ist. „Wollt Ihr Cannabis?“, fragt er.

Der Dealer erkennt Narcisse nicht, den bekanntesten Sohn der Stadt. Hi, wie geht’s, entgegnet der. Und dann: Nein, wir möchten uns nur den Sportplatz anschauen. Vielleicht ein paar Fotos machen. Narcisse redet die Sprache des Teenagers, der vielleicht 16 Jahre alt ist, er nimmt ihn trotz seines Zustandes Ernst. Auf diese Art, ist ihm bewusst, kommt es an im Viertel Moufia. Narcisse hat hier seine Jugend verbracht. Hier startete die Karriere des Handballers, die bislang ein Olympiasieg ziert, dazu Triumphe bei Welt- und Europameisterschaften, in der Champions League, und auch in der Bundesliga, der besten Liga der Welt.

Im Juli, als der THW Kiel auf Einladung des Tourismusverbandes acht Tage auf La Réunion weilte, zeigte Narcisse seinen Mitspielern die pittoresken Plätze der Insel. Die Mannschaft erwanderte märchenhaft anmutende Kulissen, etwa den Talkessel von Mafate; sie überblickte das Eiland während eines Helikopterfluges; die Handballprofis stürzten sich mit dem Mountainbike 2000 Meter hohe Abhänge hinab, auf schmalen Wegen durch Zuckerrohrplantagen. Und sie genossen die Palmen, Strände und Lagunen: Ein Paradies ist diese Insel vulkanischen Ursprungs, die 800 Kilometer östlich vor Madagaskar im Indischen Ozean aufsteigt.

Auch St. Denis, die 135000 Menschen zählende Hauptstadt des südlichsten Departements Frankreichs, hält romantische Ecken bereit; prächtige Häuser, die den kolonialen Glanz vergangener Jahrhunderte atmen, auch kunstvoll gestaltete Gärten. Doch der Ort, an dem Narcisse aufwuchs, ist ein radikaler Gegenentwurf zu diesen Postkarten-Idyllen. Ein Ghetto ist Moufia. Manch Einheimischer hat vorher eindringlich gewarnt, auf keinen Fall hier anzuhalten, weil es zu gefährlich sei in diesem Viertel. In dieser Vorstadt haben die Stadtplaner Hochhaus an Hochhaus hochgezogen, stumm bewachen große Blocks die Straßen. Narcisse zeigt auf den Quader an Avenue Hippolyte Foucque, den seine Familie damals bewohnte. „Wir wohnten ganz unten“, erzählt Narcisse, sein Vater hielt das Hochhaus als Hausmeister in Ordnung. „Es ist neu gestrichen worden“, sagt er, „es ist ein bisschen bunter heute“. Im Erdgeschoss ist heute ein Erotik-Shop.

Das College „Les Alizés“ an der Avenue Joseph Bédier, das Narcisse im Alter von zehn bis 14 Jahren besuchte, liegt verlassen da. Es ist Ferienzeit. Ein Blick in die Klassenzimmer lohne sich ohnehin nicht, lächelt Narcisse, denn die meiste Zeit habe er nicht auf der Schulbank verbracht, sondern auf dem angrenzenden Basketballfeld. Das war sicher nicht im Sinne Bédiers, dem großem Romanisten, dem Namensgeber der Straße. „Ich hätte mehr in der Schule sein sollen…“, sagt Narcisse. Doch seine Leidenschaft war schon damals die Bewegung, die Aktion, der Sport. Auf Asphalt spielten sie hier, Stunden, Tage, Monate, warfen den Ball auf die Körbe, oder stopften ihn von oben hinein. Auf die Frage, ob er damals den Dunking beherrschte, lächelt Narcisse. Na klar, soll das heißen. „Von hier bin ich abgesprungen“, sagt er und zeigt auf einen Strich, knapp vier Meter entfernt vom Korb.

Der Name der Schule, Alizé, ist der französische Ausdruck für den Passat, jenen Wind, der in den Tropen weht. Auf La Réunion fegt er von Südost über die Insel, über die 3000 Meter hohen Gipfel hinweg, und wenn er in St. Denis ankommt, ist er trocken und warm und angenehm. Wie ein Wind auch wechselte Narcisse stets vom Basketballplatz auf das Handballfeld, das in Sichtweite von der Wohnung seiner Eltern lag. „Wenn wir anderen nicht mehr konnten, dann ging Daniel noch zum Handball“, erzählt Daniel ältester Bruder Eric. „Er hatte so viel Energie, so viel Kraft, so viel Spaß.“ 300 Meter entfernt sind die beiden Plätze, zwischen ihnen lagen zwei weitere Felder, auf denen bis heute Handball gespielt wird.

Dieses Feld an der Avenue Hippolyte Foucque, auf dem sich Narcisse austobte, ist ein tristes Rechteck aus Asphalt, ein Handball-Käfig, ein drei Meter hoher Drahtzaun begrenzt das Feld. Die Tore sind ohne Netz. Die Latte eines Tores ist besprüht mit Graffiti. Der Wurfkreis ist rot eingefärbt, das Rot allerdings ist nicht mehr grell, es hat Patina angesetzt. Und auch die Linien, der Siebenmeterstrich, der Mittelkreis, sehnen sich nach frischer Farbe.

Handball auf Teer. Mit löchrigen, unwuchtigen Bällen. Auf diese wilde, kreolische Art lernte Narcisse das Spiel. Der harte Grund war nicht das Problem, meint er, Körper und Geist stellten sich darauf ein. „Meine Knochen sind nicht hier kaputtgegangen“, sagt er lachend, „sondern in der Bundesliga“. Wenn er fiel, gab es böse Schrammen, so erlernte er früh das Fallen. Als er das erste Mal Handball in einer Halle spielte, war er schon 15. „Das war wie eine Belohnung für mich, das war super.“

Seinen ersten Trainer, den Narcisse mit neun Jahren bekam, ein Mann namens Vincent Nangil, verehrt er bis heute. „Er war nicht nur ein Trainer für mich, er war mehr. Er war Lehrer und Pädagoge für uns Jugendliche“, erzählt er. „Er hat uns das Leben gelehrt, Fair play, den Umgang miteinander.“ Nangil nahm sich auch nach dem Handballspiel Zeit für die Kinder, brachte ihnen in dem Klubhaus das Schachspielen bei, oder sie spielten Karten. Die Hauptsache war, dass sie nicht die Langeweile zu Dingen trieb, für die sich die Polizei interessiert.

Die Zeit zwischen neun und 18 Jahren, die jugendliche Sozialisation, sei so enorm wichtig, sagt Narcisse, und das gelte noch mehr in dieser rauen, gefährlichen Gegend, in der das Gute und das Böse zuweilen nur eine Straße trennt. „Diese Straße ist gut“, sagt Narcisse und hebt den Arm gen Südost. Dann ändert er nur ein wenig die Richtung und sagt: „Die nächste, die rechts abgeht, führt ins Dunkel“.

Narcisse erzählt, auch er habe Dinge getan, die manch anderen vom rechten Weg abbrachten. „Ich habe viel Mist gebaut, aber ich hatte Glück“, sagt er, „ich hatte Nangil, und ich hatte meine Familie.“ Sie wohnten eng in diesem Hochhaus, zu siebt teilten sie sich drei Zimmer. „Ein Zimmer war für die Eltern, eines für meine beiden Schwestern, eines für uns drei Jungen.“ Unwohl habe er sich dabei nie gefühlt. „Ich fand das normal.“ Seine Mutter führte das Zepter in der Familie. „Wenn sie etwas sagte, dann galt das Wort“, sagt Narcisse und schiebt schmunzelnd hinterher, dass sich daran bis heute nichts geändert hat. „Meine Familie war immer für mich da.“

Marysa, die Mutter, lässt durchblicken, dass es früher nicht ganz einfach war mit Daniel, ihrem vierten Kind. „Er war so zappelig“, sagt sie, nachdem der THW Kiel ein Testspiel in St. Denis absolviert hat. Stolz lehnt sie an der Wand vor der Spielerkabine, eine resolute, in sich ruhende Frau. „Schon mit 12 Jahren wollte der Sportlehrer, dass Daniel nach Frankreich geht, in ein Sportinternat“, erinnert sich Marysa Narcisse. Sie hat abgelehnt. „Daniel sollte erst die Schule machen.“ Auch die Anfragen zwei und vier Jahre später habe sie deshalb strikt abgelehnt. So wechselte Daniel, das Riesentalent, erst mit 18 Jahren nach Chambery.

Als Teenager versuchte sich Daniel auch als Leichtathlet, er sprintete die 100 und 400 Meter, warf den Diskus, und er sprang so weit, dass er in die Auswahl der Insel berufen wurde. Er reiste auf die Seychellen, nach Mauritius, die anderen Inseln der Maskarenen, aber auch nach Madagaskar und Mayotte. „Auf diese Weise hatte ich schon früh die Möglichkeit, andere Länder kennenzulernen“, erzählt Narcisse. So reifte allmählich die Idee, mithilfe des Sportes aus Moufia auszubrechen. Aber im Handball, das war früh klar. „Da konnte ich immer am besten“, sagt Narcisse.

Dass er mit seinem Sport heute sein Geld verdient und seine Familie ernähren kann, betrachtet er als großes Geschenk. Ein Geschenk, das er allerdings auch als Verpflichtung begreift. Er hat schon mit dem Bürgermeister der Stadt darüber gesprochen, dass er gewillt ist, in seiner Heimatstadt St. Denis und auf der ganzen Insel soziale Projekte zu installieren. Es soll jungen Handballtalenten helfen. Es sei jedoch schwierig, dieses Vorhaben aus der Ferne aus Kiel zu kontrollieren, über 10000 Kilometer hinweg, sagt Narcisse.

Zumal sich auch die Verhältnisse in seiner Heimat geändert haben; das Haus, in dem sie früher Schach oder Karten spielten, wird derzeit umgebaut, auf dem Schild steht „Bar Cyberbase La Reunion“. Auch im Indischen Ozean verhindern Internet und Videospiele den Zugang vieler Jugendlicher zum Sport. Narcisse will dem trotzen, er sagt: „Ich will unbedingt allen Jugendlichen, die meinen Weg einschlagen wollen, die aber vielleicht nicht die finanzielle Chance dazu haben, dabei helfen.“ Es ist seine Art, sich zu bedanken. Bei Vincent Nangil, dem verehrten Trainer. Bei seiner Familie. Und beim Handball, der ihm das Tor öffnete in die weite, wunderbare Welt des Profisports.

Erschienen in Handball Magazin 9/2011.

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